30.03.2011

H. H. HADWIGER
EIN ENGEL MIT HARFE

„Rundum sterben sie wie die Fliegen“, meinte mein ehemaliger Mitschüler Dietmar P., den ich aus Anlass einer Reise nach Graz im „Gambrinuskeller“ wiedertraf.
Auch „Gambrinus“ ist tot. Heute ist ein Grieche in diesem Lokal.
Wir bestellten Suzukakia (Hackfleischröllchen mit Kräutern und Gewürzen) und griechischen Salat mit Feta. Am Abend wollten wir im „Schubertkino“ der Premiere des Filmes „Empire me“ im Rahmen der österreichischen Filmwoche „Diagonale“ beiwohnen.
„Gut, dass es in diesem Lokal keine Fliegen gibt!“ warf ich ein.
Was ja geradezu seine These bestätige und beweise, meinte Dietmar, dass sie gestorben seien, ob nun erschlagen oder vergiftet …
Diese Redensart bezeichne ja keine bestimmte Todesart, sondern umreiße die Unmenge der Sterbenden, ihr Dahinscheiden in großer Zahl.
Eben! Aus unserer Klasse seien bereits fünf Mitschüler dahingegangen.

Als kurz darauf Helmut F., der mit uns etwa gleichaltrige Vater des Regisseurs des heutigen Premierefilms (Paul Poet), hinzukam und wir von seinem Kommilitonen Herwig W. an der Montanistischen Hochschule in Leoben, jetzt einem meiner Freunde in Linz, sprachen, erwähnte er, er sei im Vorjahr dabei gewesen, als man dessen Bruder Hubert zu Grabe getragen habe. Von diesem Begräbnis glaube er mich zu kennen.
Wenngleich er irrte, war damit der Erörterung des einen Kreis von Greisen nach Besprechung der jeweiligen Krankheiten zweitinteressierenden Themas, nämlich wer von den ehemaligen Kollegen noch lebe, Tür und Tor geöffnet.
Dass von unseren seinerzeitigen Professoren in der BEA-Liebenau nur mehr wenige ihren mehr oder minder wohlverdienten Ruhestand genössen, sei nicht besonders verwunderlich, zumal wir beide, Dietmar und ich, schon auf 70 zugehen.
Professor J., damals Hilfserzieher, dann auf der Karriereleiter bis zum Vize-Landeshauptmann der Steiermark aufgestiegen, lebe heute noch.

Ich, der ich erst vor vier Jahren einen Herzinfarkt überlebt hatte, stelle mich seither stets auf mein letztes Stündchen ein, ob und wann immer es mir schlägt.
Einige der mir liebgewordenen Beschäftigungen kann ich schon nicht mehr uneingeschränkt ausüben.
Warum musste ich auch vorige Woche in Annaberg im Lammertal Schi fahren, bis ich im sonnaufgeweichten, schweren Schnee so zu Sturz kam, dass ich mir eine schmerzhafte Rippenprellung zuzog: ein Jammertal!
Wie lernt man „in unserem Alter-“ zumindest seine biologischen Grenzen erkennen? Und ab wann verhält man sich dementsprechend?
Aber kann ein aktiver, umtriebiger „Hans-Dampf-in-allen-Gassen“ von heute auf morgen passiv, defensiv und zurückhaltend werden? Woher sollte die Einsicht kommen, die dazu beruhigt und befriedet?

Irgendwann ist Feierabend! Was immer das heißt!
Denn ursprünglich war der Feierabend der Vorabend eines Feiertags. Damit war auch die Arbeitswoche vorbei. Also stand „Feierabend“ für die Zeit nach der täglichen Arbeit, für den Arbeitsschluss. Bis damit schlussendlich überhaupt der Schluss, das Ende, das Aus gemeint war.
Und so weit sollten wir …, sollen wir …, sind wir schon?
Da wollen wir uns doch noch vergegenwärtigen, wie weit es uns gebracht hat, wie weit wir es bisher gebracht haben, wohin es uns bringen wird,
ehe wir gehen, von uns gehen, von hinnen nach dannen gehen, heim-, fort- und vergehen, ein- ab- und zu Ende gehen, weg-, aus- , davon-, und hinausgehen, auseinander gehen, zu Grunde und vor die Hunde gehen, kaputt- und draufgehen;
ehe wir verkümmern, verwelken, verblühen, verlöschen, verfallen, verglühen, verglimmen;
ehe wir schrumpfen, einschrumpfen, schrumpeln, einschrumpeln, verdorren, verschmälern, verhutzeln, einlaufen, eintrocknen;
ehe wir enger werden, uns verengen, uns verkleinern, kürzer werden, uns vermindern;
ehe wir uns zusammenziehen, zusammenlaufen, einfallen, auslaufen, ablaufen, zusammenfallen;
ehe wir abflauen, verebben, ausklingen, verstummen;
ehe wir uns erschöpfen, wir uns verlieren, wir uns aufgeben;
ehe wir dahinschwinden, schwinden, verschwinden, abnehmen, aufhören, aufgeben, endigen;
ehe wir aussteigen, zurücktreten, austreten, abtreten, abdanken;
ehe wir uns empfehlen, uns abmelden, uns verabschieden, ehe wir Abschied nehmen, Lebewohl sagen, den Rücktritt erklären, kündigen, räumen, quittieren;
ehe wir uns trennen, ehe wir herauskommen, umkommen, ab- und auswandern, abmarschieren, abfahren, aus- und hinausziehen;
ehe wir scheiden, abscheiden, verscheiden, abschieben;
ehe wir ent- und hinüberschlummern, ehe wir uns neigen, ehe wir der Welt den Rücken kehren, sie und alles Weltliche verlassen, alle sitzen lassen, alles hinter uns lassen;
ehe wir unser Leben aushauchen, den letzten Atemzug tun, das Zeitliche segnen, den Jordan überschreiten, die letzte Reise antreten, in die ewigen Jagdgründe eingehen, den Schirm zumachen, unser letztes Gewand verkaufen, das härene Hemd oder den Holzpyjama anziehen, dem Sensenmann die Tür aufmachen, den hölzernen Kittel anlegen, uns aus den Socken jagen, die Füße ausstrecken, am Laden liegen, in die Kiste springen, Friedhof einfach ohne retour wählen, entschlafen, krepieren, verrecken, abkratzen, abnippeln, abschmatzen, abkacken, verrotten, zu Asche werden.
Ehe wir die Radieschen von unten anschauen, ins Gras beißen, den Löffel abgeben …
gerade dieses Bild fasziniert mich, soweit ich seiner Herkunft nachspüre:
In früheren Zeiten trug die Herrin des Hauses als Zeichen ihres Standes einen großen Suppenlöffel an ihrem Gürtel, den sie ihrer Nachfolgerin aushändigte.
In der Bauernschaft des Mittelalters war es üblich, dass jedes Kleinkind einen eigenen Holzlöffel bekam, den es bis zu seinem Tod meist an einem Band um den Hals trug. Wer starb, brauchte den Holzlöffel nicht mehr, hatte ihn abzugeben … abgegeben ...
Im Schwarzwald war es bei den Bauern Sitte, dass jeder seinen eigenen Löffel besaß, mit dem er aß. Der Löffel eines Verstorbenen wurde an die Wand der Bauernstube gehängt.
Ich erinnere mich noch an meine Jugend am Land, wo auf einem Bauernhof jeder, der an dem gemeinsamen „Jogltisch“ meist aus einem in der Mitte für alle Herumsitzenden aufgestellten Essensgefäß zulangen durfte, seinen Löffel aus der Brotlade nahm und ihn dorthin nach dem Essen wieder zurücklegte, ihn also immer wieder abgab. Wenn jemand vom Gesinde wegzog oder starb, musste er den Löffel endgültig ab- oder weitergeben.
Nachweislich geht die Redensart jedenfalls auf den Zisterzienserorden zurück.
Die Mönche trugen ihren Löffel an einer Kordel ihrer Kutte bei sich. Wenn ein Klosterbruder starb, wurde ihm der Löffel abgenommen. Davon ist man später abgekommen.
Ebenso bildhaft stelle ich mir die Redensart vom Ins-Gras-Beißen vor, rührt sie doch daher, dass die in einer Schlacht gefallenen Krieger tatsächlich in ihrem Schmerz in den Boden bissen. Dies ist schon in der Ilias und in der Aeneis von den tödlich verletzten Helden überliefert.

„Wir aber“, sagte ich zu meinem Freund Dietmar, der mich bei meiner Erinnerung an die Deutschstunden im Internat bereitwillig begleitet hatte, „wir wollen, jeder von uns beiden, ehe wir den Tod erleiden, aus dem Leben scheiden, vom Leben lassen, Harfe und Flügel fassen, wir wollen es uns noch einmal gut gehen, es krachen lassen!“ Darauf stießen wir an.

Danach gehen wir über den Hauptplatz in die Sporgasse, kaufen uns das erste Eis und genießen die Sonne.
Da vernehme ich den Klang einer Harfe! Eine Harfe – hier auf der Straße?

An der Ecke zur Färbergasse sitzt sie hinter einem Notenständer auf einem Dreifuß und zupft mit gekrümmten Fingern die Saiten, die Harfenistin. Ihre wundersame Weise zieht mich an.
Ich trete an die schlanke, ärmlich, aber sauber gekleidete Künstlerin heran, die – wie ich erfahre – 79 Jahre alt ist und mit ihrer bescheidenen Rente als ehemalige Konzertmusikerin kein Auslangen findet.
Viele Passanten gehen achtlos vorbei, einzelne tauschen mit mir anerkennende Blicke. Da werfe ich gern einen Fünf-Euro-Schein in ihr Körbchen.
Ich lausche: Giacomo Puccini: aus La Bohème, danach aus MadameButterfly; das erkenne ich noch. Dann aber muss ich mich an die Noten halten, in die es mir einen Blick hineinzuwerfen gelingt. Die Harfenistin spielt ohne Pause: Fauré, Acker, Mayuzumi, Holliger, Parish-Alvars, Rössler-Rosetti … virtuos, bis sie ihr Instrument, den Notenständer, die Noten und ihren Hocker auf ein kleines Wägelchen lädt und sich erschöpft zurückzieht.
Noch im Kino geht mir ihr Vortag nicht aus dem Sinn, als summte ich einzelne Melodien nach.
Deshalb kehre ich auch an den kommenden Nachmittagen an die Ecke Sporgasse-Färbergasse zurück, um erneut solch ein klassisches Freiluftkonzert zu erleben. Die Harfenistin macht mir diese Freude jedoch nicht, sie taucht nicht auf.
Als ich am dritten Tag wieder in die Sporgasse komme, ihr zuzuhören, vermisse ich ihr Saitenspiel noch immer.
Ich horche mich in der Umgebung um und erfahre, dass sie seit ihrem letzten Auftritt nicht mehr erschienen ist.
Ein Geschäftsmann am Färberplatz erzählt mir, sie sei einem Herzinfarkt erlegen, sie sei nach ihrem letzten Feierabend für immer heimgegangen: ein Engel mit Harfe.