HEINZ HELMUT HADWIGER

DAS WEIHNACHTSWUNDER VON WINKEL

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, Anfang der Fünfzigerjahre, wohnten meine zwei Halbbrüder, sechs und vier Jahre alt, und ich, damals gerade zehn, bei unserer Mutter – der Vater war im Krieg gefallen, Mutter erhielt mit 23 Jahren schon eine bescheidene Rente – in einem kleinen Ort in Kärnten nahe der slowenischen Grenze, in Winkel. In diesen gotterbärmlichen Winkel waren wir verbannt, hier fristeten wir unseren kargen Unterhalt.
Nicht umsonst – so sagte man im Volksmund – heiße der Ort auf Slowenisch „Kot“, denn gleich nach dem Krieg hatten wir kaum zu essen, so dass die Nachbarn oft verzweifelt bemerkten, wir hätten „nichts als Kot zu fressen“. Rundum lagen teils brache Äcker, teils Wiesen, an die der Wald angrenzte, der sich die Hänge der Petzen hinauf ausbreitete. Aber am Wald besaßen wir keinen Anteil. Wir hatten nur ein Bauernhaus mit ein wenig Grund rundherum gepachtet, auf dem Mutter Gemüse zog. Ein Pferd, vier Schweine, Hühner, ein Hund und Katzen waren unser ganzer Reichtum.
Und doch sind es die Weihnachtsfeste dieser Kindheit in Armut, die mir am eindringlichsten in Erinnerung blieben.
Geschenke an uns Kinder gab es da noch keine. Wir wären auch nie in die Lage, geschweige denn auf die Idee gekommen, uns etwas zu wünschen.
Aber einen Christbaum, einen Christbaum durften wir uns immer aus dem nahen Wald eines Nachbarn holen, und Reisig und Tannenzapfen, um das Haus damit weihnachtlich zu schmücken.
Und Mutter und Großmutter backten Kekse. Jedes Kind bekam am Heiligen Abend ganz für sich allein einen Teller voller Weihnachtsnaschereien. O, wie freuten wir uns darauf!
Eine Bescherung wie im heutigen Sinn gab es selbstverständlich nicht, weil wir einander nichts zu schenken hatten als unsere Aufmerksamkeit.
Am Nachmittag des 24. Dezember erwarteten wir immer die Kinder der Bergbauern, die bei uns zu Gast waren. Sie kamen nach manch beschwerlichem und zeitraubendem Abstieg ohne ihre Eltern über die Almen und durch die Wälder von der Petzen herunter, bemüht, vor Einbruch der Dunkelheit bei uns einzutreffen, um mit uns um Mitternacht die Christmette in St. Michael bei Bleiburg zu begehen.
Wenn der Ischep Franzi, wenn die Geschwister Betka und Ernst Goldnig, wenn die Pototschnig-Brüder Naz und Robert, wenn Ernst und Heine Ratschnig, wenn Otmar und Helene Morn eingetroffen waren, servierte Großmutter Kekse und Tee, und wir Kinder spielten „Mensch ärgere dich nicht“ oder Karten. Darunter gab es auch ein Spiel, das slowenisch „galfen“ hieß, was soviel wie schwindeln oder schummeln bedeutete und worin ich sehr geschickt war, so geschickt, dass mir der Ratschnig Ernst, vulgo Brtschu, einmal aus lauter Wut darüber, dass er verlor, eine Ohrfeige gab. Seither habe ich nicht mehr „gegalft“ noch sonst Karten gespielt.
In der Regel ging ’s aber nicht so ernst (wie mit dem Ernst) und so brutal zu, sondern wir hatten unseren Spaß dabei, miteinander zu spielen und einander Geschichten zu erzählen.
Am frühen Abend steckte Großmutter den Weihrauch an und den vertrockneten Palmkatzerlbuschen vom Palmsonntag und ging damit durch alle Räume des Hauses, durch den Stall und ums Haus herum, wir Kinder hinterdrein, wobei wir einen Rosenkranz nach dem anderen beteten. War das eine besinnliche Prozession!
Durch diese Räucherzeremonie gewannen wir die Gewissheit, dass unser Haus auch künftig von Feuer verschont bliebe und uns und unseren Tieren kein Unglück widerführe. Wir Kinder sahen das als unseren eigensten Wunsch an und waren daher recht eifrig bei der Sache.
Danach waren wir schon voller Ungeduld und konnten den Aufbruch zum Fußmarsch nach St. Michael bei Bleiburg kaum erwarten, wussten wir doch, dass wir beinahe zwei Stunden wandern müssten, selbst wenn wir die Abkürzungen über die Felder und durch die Wälder nehmen würden. Dabei ließ man uns Kinder allein wandern, was uns mancherlei Spaß bereitete, zumal damals immer schon viel Schnee lag und wir trotz bitterer Kälte – die Äcker waren so gefroren, dass wir über den Harsch gehen konnten – Schneebälle zu formen versuchten und uns damit bewarfen. Bei allem Übermut achteten wir streng darauf, kurz vor Mitternacht bei der Kirche einzutreffen, da dort schon entfernte Verwandte und deren Nachbarn warteten und uns in die Mette begleiteten, in der wir Kinder, weil die Kirche so voll war, immer stehen mussten, was wir für allerlei Unsinn nutzten: Wir stupsten einander, traten von einem Fuß auf den anderen, wisperten und gaben uns heimliche Zeichen. So richtig ernst nahmen wir den Gottesdienst nicht, aber wir beteten doch inbrünstig und sangen hingebungsvoll mit, schon in Vorfreude auf das Danach.
Nach der Mette luden uns nämlich die entfernten Verwandten in das „Gasthaus zum Grünen Baum“, gleich neben der Kirche, auf eine sauere Suppe ein.
Beides gibt es heute nicht mehr: Das Gasthaus musste in den Achtzigerjahren einer Fabrik für Abgasfilter weichen, die Wirte, die nach der Großmütter Rezepte saure Suppen kochten, sind ausgestorben.
Was war das damals für uns Kinder ein Hallo, wenn wir – vom langen Abend und dem Kirchenbesuch schon ziemlich hungrig – das Gasthaus stürmen und unsere Suppe schlürfen durften!
Derart bescheiden, aber umso herzlicher waren unsere Weihnachtsfreuden.
Bis wir dann endlich gegen vier Uhr früh auf unserem Hof einlangten, hatten wir das größte Glücksgefühl, wieder dieses berückende Erlebnis der Gemeinschaft mit den Bergbauernkindern erfahren zu haben, auf das wir uns schon wochenlang davor gefreut hatten.
Nun wurde Stroh von der Tenne in der Stube aufgeschüttet und als Nachtlager für uns und unsere kleinen Gäste bereitet, wenngleich wir noch gar nicht bereit waren, einzuschlafen. Vielmehr teilten wir einander noch unsere frischen Eindrücke vom Weihnachtsabend, der Christmette und dem Saure-Suppen-Schmaus mit, schwärmten davon, was wir in den Weihnachtsferien vor hätten und horchten unsere Gäste aus, was bei ihnen zu Hause auf sie warten würde.
Großmutter, Mutter, die Nachbarn und auch die Familienangehörigen unserer Bergbauernkinder brachen um sechs Uhr – die entlegener Wohnenden schon früher – von zu Hause auf, um rechtzeitig zur Frühmette zu kommen.
Also gewannen wir noch ein paar Stunden, in denen wir unbeaufsichtigt waren, was wir so lange ausnutzten, bis uns die Müdigkeit übermannte.
Trotz allem wurden wir geweckt, sobald Mutter und Großmutter von der Kirche zurück waren und das Frühstück zubereitet hatten, Wir gähnten noch und rieben uns den Schlaf aus den Augen, wenn zu Butterbroten mit selbsteingekochter Marmelade Blümchenkaffee aufgetragen wurde. Im Herbst hatten wir Kinder dazu Bucheckern gesammelt, die mit Weizen geröstet und gemahlen worden waren.
Gegen Mittag traten die Bergbauernkinder ihren Heimweg an, nicht ohne hoch und heilig zu versprechen, nächstes Jahr zu Weihnachten wieder zu kommen.
Auf diesen Jahresfixpunkt freuten wir uns von einem zum andern Mal, bis wir irgendeinmal zu groß oder durch Lehren und Schulen von zu Hause zu weit entfernt waren, als dass wir diesen uns ans Herz gewachsenen Brauch der Kindheit hätten fortsetzen können.
Unvergesslich ist mir aber noch Weihnachten 1953. Ich war gerade zwölf geworden und hatte als Älteste die Oberaufsicht über die Weihnachtsgäste übertragen erhalten. Also stellte ich gegen 17 Uhr, nachdem es bereits dunkel geworden war und alle Bergbauernkinder eingetroffen sein mussten, fest, dass der Ischep Franzi nicht gekommen war. Wir sehr ich die anderen Kinder auch fragte, niemand konnte mir einen Grund dafür nennen. Selbst wenn er noch so schlimm gewesen wäre, seine Eltern hätten ihn anderweitig bestraft, aber sicher nicht uns damit, dass er unserem Weihnachtstreffen fern bleiben musste. Auch konnte niemand bestätigen, dass er etwa krank geworden sei, hatte er doch noch tags zuvor den Unterricht besucht. So rätselten wir hin und her, was ihn wohl gehindert haben könnte.
Telefon gab es damals weder bei uns noch zu den Bergbauern, und der Ischep-Hof lag zu weit jenseits der Gräben, als dass jemand von uns hätte hinwandern und nachfragen können.
Schließlich trösteten wir uns damit, dass Franzi wohl durch irgendein wichtiges Familienereignis davon abgehalten worden sei, und hofften, dass es ein freudiger Grund wäre, wie etwa die Geburt eines Kälbchens oder eines Geschwisterchens.
Als dann mit zunehmender Finsternis der ins Tal fallende Nebel immer dichter und dichter wurde, gaben wir unsere Hoffnung endgültig auf, Franzi würde auch heuer zu uns stoßen. Schade!
Erst als ich in der Kirche zu St. Michael bei Bleiburg eintraf, wurde ich mir Franzis Fehlen wieder bewusst, hatte ich doch im Jahr davor dort mit ihm um einen Platz möglichst nahe dem Mittelgang „gekämpft“. Schade, dass er heuer nicht dabei war!
Sicher hätte ihm auch die sauere Suppe nach der Christmette gut getan.
Als wir schon nicht mehr an Franzi dachten und endlich gegen vier Uhr heimkamen, tritt der doch aus unserem Schuppen hervor, wo er sich nach seinem verspäteten Eintreffen gewärmt hatte.
Er war, weil er zu Hause noch im Stall geholfen hatte, erst nach 16 Uhr vom Hof aufgebrochen, Dunkelheit und Nebel hatten ihn vom Weg abkommen und sich verlaufen lassen. Stundenlang sei er über Abhänge und durch Forstschonungen geirrt, ohne jede Orientierung. Erst als er die Glocken zur Christmette gehört habe, sei er diesen Klängen nachgegangen und so gegen zwei Uhr früh auf unserem Hof eingetroffen, zu erschöpft, um den Weg noch nach St. Michael fortzusetzen. Daran habe auch die süße Aussicht auf die sauere Suppe nichts zu ändern vermocht. Er habe sich bis zur unserer Rückkehr ins Stroh gelegt.
Wie schmeckten ihm die Kekse nun!
Am nächsten Tag waren wir doch neugierig, wo Franzi die ganze Nacht lang umhergeirrt war. Da am Nachmittag des Weihnachtstages frischer Schnee gefallen war, konnten wir seine Spuren zu unserem Hof noch gut ausmachen. So brachen wir Kinder nach dem Frühstück mit den anderen Bergbauernheimkehrern auf und folgten den Fährten des Ischep-Franzi. Welch Umwege, welch Abwege war der vortags gewandert!
Nachdem wir einige Gräben durchmessen und einen Wald nach dem anderen durchstreift hatten, gelangten wir in den höheren Regionen an einen Grat, den Franzi längere Zeit verfolgt hatte und von dem er – wäre er nur ein, zwei Schritte seitwärts abgekommen – unweigerlich in eine Schlucht gestürzt wäre. Genau hier musste das Läuten der Christmetteglocken eingesetzt haben, denn Franzi hatte seinen Weg abrupt nach rechts – von der Schlucht weg und dem Walde zu – gewandt. Wie durch ein Wunder war er damit dem sicheren Absturz entgangen.
Als wir Kinder uns dessen bewusst wurden, stiegen wir mit Franzi bis zur Kapelle beim Hof seiner Eltern auf, seiner Eltern, die von alldem bisher nichts erfahren noch geahnt hatten, in welcher Lebensgefahr ihr Bub am Weihnachtsabend geschwebt war.
Dort haben wir uns mit einem Gebet für die wunderbare Errettung Franzis bedankt, ohne uns darüber abzusprechen, ob der Dank dem lieben Gott, dem Christkind, dem Heiligen Geist oder einem Schutzengel gelten sollte.
Erst Jahre später, als ich zufällig an einem Samstag zur Mittagszeit, wenn nicht nur alle Glocken der nahen Kirchen läuten, sondern auch die Alarmsirene der umliegenden Gemeinden aufheulen, auf Schiern just an der Stelle unterwegs war, wo sich Franzi eines Besseren besonnen hatte, als nach links in die Schlucht abzustürzen, fiel mir mit einem Male auf, dass man dort weder Glocken noch Sirenen vernehmen konnte, weil sie der Schall so weit in den Berg hinein nicht trägt.
Ob nicht zur Weihnacht 1953 doch ein Schutzengel den Ischep-Franzi auf den rechten Weg zurückgeläutet hatte?