WUNDERSAME WANDLUNG

Hermi Schnuff hatte ein mittelmäßiges Leben hinter sich, als sich ihre Hoffnung auf so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit oder Sühne schon bei Lebzeiten in Form von Reue wider Erwarten doch noch erfüllte.
Sie stammte von Kleinhäuslern aus Kärnten, hart an der slowenischen Grenze, ab, hatte nur eine Volkschule, noch dazu eine slowenische,
besucht, war dann täglich mit dem Zug in die Stadt und wieder heim gefahren, um eine Schwesternschule zu besuchen, hatte sich einige Jahre am Krankenhaus in Graz bis zur OP-Schwester hochgearbeitet, dann einen Schlosser geheiratet, der bald seinen eigenen Betrieb zu einer ansehnlichen Firma erweitert hatte, war nach der Geburt des einzigen Sohnes Hausfrau und Mutter mit Herz und Seele und erfuhr, als der Sohn aus dem Haus war, die Enttäuschung, dass sich ihr Mann in eine jüngere Frau verliebte, derentwegen er Hermi erst schlecht behandelte, dann verließ und ihr zuletzt nach der Scheidung nur geringen Unterhalt leistete.
Jahre über hatte sich Hermi darüber gekränkt, so abgefertigt, so abgeschoben worden zu sein.
In der Zeit der schlimmsten ehelichen Auseinandersetzungen hatte sie sich bei zwei Freundinnen ausgeweint, hatte sie ihren Kummer einer Nachbarin und ihrer Friseuse Melitta Kampfer geklagt.
Just jetzt, nach der Scheidung, als es allmählich wieder besser zu gehen begann, weil es keine Konfrontationen mit ihrem Mann mehr gab, schüttete ihr Melitta, die ihr mittlerweile zu einer Vertrauten geworden war, ihr Herz aus:
Sie habe einen lieblosen Mann, der sich im Haus um nichts kümmere und noch dazu brutal sei. Bei der geringsten Kleinigkeit schlage er sie, die beiden Kinder verprügle er aus nichtigen Anlässen. Jetzt, zwei Wochen vor Weihnachten, fürchte sie sich schon vor dem Heiligen Abend. Unter dem Christbaum habe es bei ihnen jedes Jahr nur Streit und Vorwürfe gegeben, wobei ihr Mann Hubert nach dem Tod seiner Mutter jedwede Beherrschung verloren habe.
Melitta komme sich so allein und hilflos vor, weil ihr Mann wisse, sie könne sich an niemanden um Hilfe wenden.
Da bot ihr Hermi an, sie an einem Wochenende zu besuchen.
Nein, sie sei nicht so naiv zu glauben, ihrem Mann ins Gewissen reden zu können, zumal er augenfällig gar keines besitze! Aber ihre Anwesenheit, ihr Gespräch mit Melitta, ihre Zuwendung an die Kinder würden Hubert vielleicht Mäßigung und Zurückhaltung auferlegen und er sähe wenigstens, dass Melitta eine Freundin hat.
Am nächsten Samstagnachmittag kam Hermi zu Melitta, brachte den Kindern Schokolade mit und einen Kuchen für alle. Melitta hatte ihr das Haus gezeigt, und sie saßen gerade beim Kaffee, während die Kinder draußen spielten, als Hubert eintrat.
Melitta hätte ihr ihn nicht vorzustellen brauchen! Sie erkannte ihn mit Entsetzen sofort wieder, wenn auch seit ihrer letzten Begegnung über dreißig Jahre verstrichen waren.

Damals – es war auch in der Vorweihnachtszeit gewesen – war sie OP-Schwester im Krankenhaus, 24 Jahre alt und noch ungebunden. Ihre Kollegin Elsa hatte ihr vorgeschlagen, Hermi möge sie zu einer Weihnachtsfeier im Gasthaus an einem nahen See zu begleiten, dort gäbe es nach einem Buffet sogar Livemusik mit Tanz. Hermi sollte sich doch auch einmal einen netten Abend gönnen!
Verschwiegen hatte ihr Elsa freilich, dass sie dort ihren Freund Max träfe. An den Tisch der drei setzten sich bald zwei Freunde von Max, Pepi und Hubert, die schon während des Festessens ständig durch vorlaute Zwischenbemerkungen aufgefallen waren und einander nun beim Tanz mit Hermi abwechselten, der überhaupt nicht nach Tanzen zumute war.
Ohne vorherige Ankündigung verabschiedeten sich Elsa und Max alsbald, sie würde heute Nacht bei ihm bleiben, die beiden Freunde würden Hermi sicherlich sicher nach Hause bringen.
Da saß Hermi nun 20 km von Graz entfernt gegen Mitternacht mit diesen beiden Fremden zusammen, die so gar nicht nach ihrem Geschmack waren, und musste darauf warten, bis sie sich erböten, sie heimzubringen.
Früher als befürchtet, brachen sie auf. Hermi wollte sich auf den Beifahrersitz setzen, Pepi aber packte sie am Unterarm und schob sie auf die Rückbank, wo er neben ihr Platz nahm und sofort, ehe Hubert noch gestartet hatte, Annäherungsversuche anstellte: Er rückte Hermi immer näher, legte ihr einen Arm um die Schulter und wollte sie an sich ziehen, während er ihr mit der anderen Hand auf den Oberschenkel griff und ihr Kleid hochzuschieben trachtete. Hermi verbat sich dies und stieß ihn von sich weg, was aber keinerlei Eindruck auf ihn machte.
„Geh, sei doch net so!“, drängte Pepi weiter und versuchte, ihr auf die Brust zu greifen. Hermi schlug ihm gegen die Hand und schrie, er solle das sein lassen, sie sei an seinen „Zärtlichkeiten“ nicht interessiert.
Indessen lenkte Hubert den Wagen von der Straße abseits in einen kleinen Wald und hielt an.
Hermi hoffte schon, er werde ihr gegen den aufdringlichen Pepi zur Hilfe kommen. Weit gefehlt! Er öffnete vielmehr den hinteren Wagenschlag, Pepi gegenüber, und versperrte ihr – als Hermi herausspringen wollte – den Weg, sie am Oberarm erfassend und ins Auto zurückdrängend.
„Komm schon, zier di net! Du wüst es do a!“, gab Hubert klar zu erkennen, was er wollte und packte noch fester zu, während sich Pepi von der anderen Seite an Hermi hängte. Dieser gelang es, Pepi abzuschütteln, sich mit aller Kraft von Hubert loszureißen, ihm einen Stoß zu versetzen, dass er überrascht zurücktaumelte, und an ihm vorbei ins Freie zu stürmen. Sie lief auf die Straße zu, aber die beiden Burschen hatten sie nach wenigen Schritten eingeholt.
Hermi schrie laut auf, sie mögen sie in Frieden lassen. Hubert und Pepi fingen sie ein, davon unbeeindruckt, und hielten sie – jeder an einem Oberarm – fest. So viel sie auch ausschlug, sie mochte sich nicht befreien.
Schon drängten die beiden Hermi gegen einen Baum und versuchten, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Als Hermi zu weinen und um Hilfe zu schreien begann, schlug ihr Hubert dreimal heftig ins Gesicht, dass sie Nasenbluten bekam. Ohne sich darum zu kümmern, zerfetzte Hubert ihr Kleid und warf es zu Boden, wohin er auch Hermi niederzwingen wollte. Pepi unterstütze ihn dabei, indem er Hermis Beine wegzog.
Hermi schrie erneut gellend um Hilfe.
„Kusch, blöder Trampel! Hier hört di do eh kana!“, befahl ihr Hubert zu schweigen und stieß sie brutal zu Boden. Pepi hielt sie an den Beinen fest, während ihr Hubert den Büstenhalter herunterriss.
Da näherte sich der Lichtkegel eines Motorrades. Der Fahrer hatte die Kampfszene am Waldesrand bemerkt, hielt an und forderte die beiden Unholde auf, sofort von dem Mädchen abzulassen. Als diese aber von ihrem Vorhaben offensichtlich nicht abrückten, schlug der Motorradfahrer auf den ihm zunächst stehenden Hubert wild mit den Fäusten ein, sodass dieser – zu keinerlei Gegenwehr fähig – ins Auto floh. Nun kam Pepi an die Reihe, der noch dabei war, Hermis Beine auseinander zu reißen.
Ein gezielter Kinnhaken streckte ihn nieder. Benommen rappelte er sich auf und lief zum Wagen, den Hubert schon angelassen hatte. Dann fuhren die beiden versuchten Vergewaltiger davon.
Der Motorradfahrer half der völlig verstörten Hermi auf die Beine, sammelte ihre Kleidungsstücke ein und geleitete sie, Trost spendend, zu seinem Motorrad. Sie möge sich auf den Sozius setzen, er werde sie zu sich nach Hause fahren, wo sie sich herrichten könne, ehe sie sich auf den Heimweg mache. Damit war Hermi einverstanden.
Im nahen Bauernhof durfte sich Hermi erst einmal das Blut aus dem Gesicht waschen und sich wärmen. Während sie ihre Kleider säuberte und zurechtrückte, bekam sie heißen Tee.
Ihr Retter wollte wissen, ob er die Polizei verständigen oder sie dorthin bringen solle. Hermi meinte, sie werde sich das noch überlegen. Daraufhin fuhr er sie nach Hause.
Hermi nahm von einer Anzeige Abstand, mit Rücksicht auf die damals bei Verfolgung eines Sittlichkeitsverbrechens noch zu gewärtigenden Peinlichkeiten.
Sie berichtete ihrem Chef im Krankenhaus davon, der sie jedoch gleichfalls nicht dazu bewegen konnte, zur Polizei zu gehen, dafür aber entließ er Elsa: Hätte sie Hermi nicht allein gelassen, wäre das alles  nicht passiert!
Noch lang hatte Hermi unter den psychischen Folgen gelitten. So schreckte sie aus Albträumen auf und wagte nicht mehr, allein durch den Wald zu gehen.

Und nun stand sie unvermittelt einem ihrer Peiniger gegenüber, der sie noch dazu nicht gleich erkannte, sondern erst, als Melitta Hermis Namen nannte und Hermi beim Aufstehen eine Kuchengabel vom Tisch stieß, um einen Vorwand zu haben, sich – anstatt Hubert die Hand geben zu müssen – danach zu bücken, wozu auch dieser sogleich Anstalten machte, erwartungsgemäß jedoch langsamer als die darauf vorbereitete Hermi war, sodass er mit der Ausflucht, eine neue Gabel zu holen, in die Küche eilen konnte. Von dort rief er seiner Frau zu, Jürgen, das jüngere der Kinder, habe nach ihm verlangt, er gehe hinaus, die Kuchengabel habe er bereitgelegt.
Melitta holte sie und entschuldigte sich bei Hermi für das ihr nicht ganz einleuchtende, schnelle Verschwinden ihres Mannes.
Hermi machte die unerwartete Gegenüberstellung mit Hubert erst jetzt erzittern.
Als Melitta diese Irritation bemerkte, meinte Hermi, sie dürfte sich erkältet haben und sähe sich daher gezwungen, ihren Besuch vorzeitig zu beenden, Melitta möge ihrem Mann und den Kindern Grüße bestellen. Damit verließ sie das Haus durch den vorderen Eingang, ohne an Hubert im Hof bei den Kindern vorbeigehen zu müssen.

Erst kurz nach Weihnachten kam Hermi wieder zu ihrer Friseuse ins Geschäft. Melitta erzählte ihr freudig, dass sie die bisher schönsten Weihnachten erlebt hätte, diesmal ohne jeden Streit. Überhaupt sei ihr Mann seit Hermis Besuch zuvorkommend und wie ausgewechselt. Es habe seither keine harten Worte mehr gegeben, geschweige denn, dass er sie oder die Kinder geschlagen hätte. Er bemühe sich um sie wie nie zuvor. Sie neige dazu, an ein wahres Weihnachtswunder zu glauben. Habe Hermi etwa mit Hubert gesprochen oder auf ihn eingewirkt?
Er sei wohl spät, aber doch draufgekommen, was sich gehöre, meinte Hermi nur. Möge dieser wunderbare Wandel anhalten!