Schwer ist zu tragen
Das Unglück, aber schwerer das Glück …
Hölderlin (Musen-Almanach, 1808, 101)

Glück erfährt, wer ärgerem Unglück entgeht

„Glück“ bedeutet günstige Fügung als Schicksal; der daraus erwachsende Erfolg; Gemütszustand innerer Befriedigung und Hochstimmung, besonders nach Erfüllung ersehnter Wünsche; günstiger Zufall (Wahring: Deutsches Wörterbuch).
Als ob ich im Wörterbuch
nach meinem Glücke such?
Bezeichnend, dass „Glück“ ein unzählbares Substantiv ist, das in der Regel keinen Plural bildet; nur selten finden wir „Glücke“, wenngleich unzählige Glückszustände angestrebt werden. Auch lässt der Glückliche nur selten andere an seinem Glück teilhaben, es sei denn, er ginge mit ihm eine synözische Symbiose ein, ein Zusammenleben verschiedener Organismen, das den Wirtstieren weder schadet noch nützt. Na ja, nützen dürfte es schon!
Unter „Glück“ versteht der unbescheidene Mensch gemeiniglich seinen Erfolg in Reichtum und Liebe, manchmal in Arbeit, Freundschaft, Familie, viel zu wenig in Gesundheit. Vielleicht weil: „Wie notwendig die Gesundheit zu unseren Geschäften und zu unserer Glückseligkeit sei, …: dies ist zu einleuchtend, als dass es erst bewiesen werden müsste.“ (meint John Locke in Gedanken über Erziehung, 1,3.)
„Neun Zehntel unseres Glücks beruhn allein auf der Gesundheit“, so Schopenhauer in Aphorismen zur Lebensweisheit, 2.
„Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.“, lässt uns Nietzsche in Zarathustra, I, Vorrede, 5, wissen.
Und für Menander sind in seinen Sentenzen in Monostichen, 519 „Gesundheit und Verstand … die beiden Lebensgüter.“
Wozu der Umgangssprache Spruch: „Er hat mehr Glück als Verstand“ gar köstlich passt!
Jedoch: Das Rad des Glücks dreht sich schnell, das Schicksal ist meist wechselhaft. Und wer es schafft, wenig begabt, hat Glück gehabt!
Denen, die wir nicht beglücken, kehrt das Glück demnach den Rücken.
Ja, Glück muss man haben!
Zwar kommt „Glück“ vom mittelhochdeutschen „g(e)lücke, was so viel wie „Geschick, Schicksalsmacht, Zufall, günstiger Ausgang“ bedeutete, aber allzu oft hinterlässt der Wunsch nach dem Glücke nur eine schmerzhafte Lücke.
Zu ihrem Glück hat sie, hat es manchmal niemand gesehen
Manch einer steht – wenn ich ’s recht überlege – seinem Glück oft selbst im Wege. Kommt dann zum Glück Hilfe von anderer Seite: welch ein Glück!
So will ich auf gut Glück versuchen (das heißt ohne Gewissheit des Erfolges), das Thema „Glück“ von einem andern Standpunkt anzugehen.
Gelänge es, könnte ich von Glück reden, dass ich so glimpflich davongekommen bin.
Schon Schiller lässt in Wallensteins Tod (III, 18) Max erkennen:
„Das Geheimnis
Ist für die Glücklichen; das Unglück braucht,
Das Hoffnungslose, keinen Schleier mehr:
Frei, unter tausend Sonnen kann es handeln.“
Zum tieferen Verständnis helfe Dschuang Dsi im wahren Buch vom südlichen Blütenland (18,1): „…höchstes Glück ist Abwesenheit des Unglücks, …“
Von dieser Warte aus sollt ihr folgende Glücksgeschichten lesen!

 

Der Mensch meint oft, er ginge seinem Glück entgegen,
und auf seinem Wege steht vielleicht das Unglück.
Heine, Reisebilder, II: Italien, II: Die Bäder von Lucca, Kap. 9

1.Glücksgeschichte:
Die Unglücksnacht

Die zierliche Chinesin Z. a. Z. verlässt spätnachts das Restaurant, in dem sie als Kellnerin arbeitet, und macht sich müde und erschöpft. auf den Heimweg.
Der 42-jährige M.W. hat bis dahin kräftig dem Alkohol zugesprochen und sich Mut angetrunken, um eine Frau zu überfallen. Er war erst drei Wochen davor aus zwei Freiheitsstrafen von insgesamt 16 Monaten entlassen worden.
Er beobachtet die Chinesin und verfolgt sie. Ihr gelingt es nicht, ihn abzuschütteln. Noch ahnt sie nicht, was er von ihr will, vermutet aber eine Belästigung. Sie beschleunigt ihre Schritte. Sie vermag den Verfolger nicht auf Distanz zu halten. Als er sie eingeholt hat, drängt er sich an sie und erklärt sein Verlangen.
Darin, dass sie sein Ansinnen nicht versteht, sieht er eine brüske Weigerung, weshalb er sich zu Gewalt entschließt. Auf Höhe des Museums erfasst er die Frau seitlich von hinten, drückt sie gegen eine Haustür und würgt sie mit beiden Händen am Hals.
Die Chinesin wehrt sich vehement, und als ihr der Sittenstrolch einen Zungenkuss geben will, beginnt sie zu schreien. Er hält ihr den Mund zu. In diesem Augenblick nehmen zwei Polizeibeamte in einem vorbeifahrenden Streifenwagen die Szene wahr und die Verfolgung des Flüchtigen auf. Sie stellen ihn in einem Gebüsch. Er gibt freimütig zu, er habe die Frau „schnackseln“ wollen (umgangssprachlich für „ mit ihr geschlechtlich verkehren“), da dies aber „nicht leicht gegangen sei“, habe er Gewalt angewendet, um die Chinesin so weit einzuschüchtern, dass sie sich ihm hingäbe. Ihm sei „der Geduldsfaden gerissen“, deshalb habe er „zugedrückt“. Er hätte „um jeden Preis“ im Schutz des Hauses oder im anschließenden Strauchwerk den Verkehr vollzogen, wären nicht die Polizisten aufgetaucht.
Die Chinesin kam mit dem Schrecken und Würgemalen an beiden vorderen wie an den seitlichen Halspartien und einer 3 cm langen Kratzspur an der linken Halsseite davon.

Z. a. Z. hatte Glück gehabt, Glück im Unglück, Glück, dass ihr nicht noch ärgeres Unglück widerfahren war.

Weniger glücklich hatte M.W. agiert, was ihm angesichts seiner bisher 31 Verurteilungen, darunter 17 wegen Gewaltdelikten und zwei wegen versuchter Notzucht, zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe wegen des Verbrechens der versuchten Nötigung zum Beischlaf einbrachte.
Sein „Unglück“ hatte sich wiederholt:
19 Jahre davor hatte er eine Frau im Eingang eines Hotels überfallen, zu Boden geworfen und ihr die Unterhose gewaltsam ausgezogen, wobei ihn der Haushund „störte“.
In einem zweiten Fall war er in einer Garage über eine Frau hergefallen, hatte ihr den Mund zugehalten, sie zu Boden geworfen, sich auf sie gekniet. Als er sein Vorhaben wahrzumachen begann, eilte durch die Hilferufe der Überfallenen ein Gemeindepolizist herbei.
Während der Verurteilte M.W. ab seinem 18. Lebensjahr über elf Jahre (die Hälfte seiner Lebenszeit in Volljährigkeit) in Haft verbracht und daraus offenbar nichts gelernt hat, wird die kleine Chinesin Z. a. Z. diesen Gang heim zum häuslichen Glück nie vergessen und, welch Unglück sich ihr da in den Weg gestellt hatte, ehe sie durch das Dazwischentreten der Polizisten von noch größerem Unglück verschont blieb.
Auch dürfte sie dadurch – trotz ihrer sonst glücklichen Naivität – klar erkannt haben, welch Glück sie gehabt hatte, dieses ärgere Unglück nicht auch noch zu erleiden.
Allerdings braucht man nicht unbedingt Chinesin zu sein, um einen solchen Überfall so unglücklich hinzunehmen, so glücklich zu überstehen und ärgerem Unglück letzten Endes glücklich zu entgehen.

Glücklich ist, wer fern den Geschäften.
(Beatus ille qui procul negotiis.)
Horaz, Epoden; 2, 1.

2. Glücksgeschichte:
Vom Ort des Unglücks fort

Der Jurist Hans-Peter hatte mit seiner Bekannten Monika vereinbart, sie zu einer Veranstaltung zu begleiten, bei der Anna-Lisa, die Obfrau des Kulturvereins, deren Vorstand beide als Rechnungsprüfer angehörten, das Silberne Verdienstzeichen des Landes erhalten sollte. Eine Landesrätin würde gar das Goldene Ehrenkreuz bekommen, und danach gäbe es für alle Gäste ein köstliches Buffet.
Wäre Hans-Peter nicht noch am späten Vorabend des Festaktes von Hendrik, seinem Wohnungsnachbarn, zu sich gebeten worden, um ein „juristisches Problem“ zu lösen, das sich letztendlich als ausgelassenes Besäufnis mit weiteren Freunden entpuppte, hätte er gewiss dem Weckruf entsprochen, den er eigens an seinem Handy eingestellt hatte.
So aber, über das Normalmaß alkoholisiert, überhörte er das Klingelsignal und verschlief.
Als er zwei Stunden später erwachte, war die Ehrung schon vorbei und er konnte nicht gut nur zum Buffet erscheinen, auch hätte er wegen des offensichtlichen Restalkohols in seinem Blut nicht mit dem Auto zu fahren riskiert.
Wie (einerseits) bestürzt und (andererseits) erleichtert war er daher, als er mittags in den Nachrichten erfuhr, die Veranstaltung sei durch einen Selbstmordattentäter gesprengt, über dreißig Besucher seien getötet worden. Anna-Lisa rief ihn an, der Landeshauptmann sei gar nicht mehr dazu gekommen, ihr das Silberne Ehrenkreuz zu verleihen. Dies sei aber das kleinere Übel, „das geringere Unglück“, sagte sie, gewesen, die Landesrätin sei ihren Verletzungen noch vor Verleihung des Verdienstzeichens erlegen, der Landeshauptmann habe – zu seinem Glück! – den Anschlag überlebt.
Auch Monika rief Hans-Peter kurz danach an:
Woher er gewusst habe, dass es ein Bombenattentat geben werde, weil er sich „davor gedrückt habe“?
Er habe zwar das Unglück nicht im Entferntesten kommen sehen und sei dem Festakt nur deshalb fern geblieben, weil ihn ein „demgegenüber kleineres Unglück“ am Erscheinen und In-die-Luft-Gesprengt-Werden gehindert habe, nämlich, dass er noch von der Vornacht her betrunken gewesen sei und daher „unglücklicherweise“ verschlafen habe, was sich nun als „eigentliches Glück“ herausstelle, weshalb es ihm auch nichts ausmache, wenn Monika ihm dies als Vernachlässigung ausstelle.
Er habe sozusagen eigenes Glück im Unglück der anderen gehabt, beziehungsweise sei das fremde Unglück dort eingetroffen, wo er zu seinem eigenen Glück nicht oder noch nicht eingetroffen gewesen war.
Bei all dem massiven Unglück sei es jedenfalls für ihn, Hans-Peter, ein Einzelglück, nicht dabei gewesen zu sein, als das tragische Unglück geschah, da nähme er das Unglück der Vornacht gern auf sich, seiner Trunkenheit wegen verschlafen  zu haben und nicht pünktlich, ja, dann überhaupt nicht mehr beim Festakt erschienen zu sein. Auch Anna-Lisa könne von Glück reden, dass sie nur das Silberne Ehrenkreuz, nicht aber ihr Leben verloren habe, während das Unglück der Landesrätin darin gegipfelt habe, dass sie zu Tode gekommen sei, bevor sie sich über der Verdienstzeichenverleihung  Glück habe freuen dürfen.
Mehr Glück als Verstand habe dabei der Landeshauptmann bewiesen, dem sowohl das Glück einiger Verleihungen von Ehrenzeichen widerfahren war als auch das des Überlebens des allgemeinen Unglücks. Er habe zwar einige Verdienstkreuze nicht mehr an die Frau gebracht, dafür habe ihn – zum Glück! – das Sprengstoffattentat wenigstens nicht ums Leben gebracht, während sich die dreißig Opfer um alles gebracht sehen müssten, wenn sie das Glück gehabt hätten, dies noch zu sehen, anstatt dem Unglück, nie wieder ein Glück zu sehen, aber doch angesichts des Glückes, dadurch nie wieder ein Unglück zu erleben und überleben zu müssen.

Das Glück vergeht und lässt in der Seele kaum eine flache Spur zurück
und ist oft gar kein Glück zu nennen, da man dauernd dadurch nicht gewinnt.
Das Unglück vergeht auch (und das ist ein Trost), lässt aber tiefe Spuren zurück
und, wenn man es wohl zu brauchen weiß, heilsame
und ist oft ein sehr hohes Glück, da es läutert und stärkt.
Wilhelm von Humboldt, Briefe an eine Freundin, 1, Abt., 10. Br., Burgörner, 10.7.1822.

3. Glücksgeschichte:
Glück als entgangenes Unglück

Dr. H. H. war Richter am Landesgericht, ein strebsamer, ehrgeiziger Richter. Er hatte sich vom biederen Bezirksgericht hierher zu höherer Verwendung und Verantwortung beworben. Nun schlug er sich nebst anderen Aufgaben nolens volens einerseits mit Drogenabhängigen herum, die mehr einer ärztlichen Betreuung als seines vernichtenden Urteil bedurften, andererseits hatte ihm die Geschäftsverteilung Kriminelle mit den Anfangsbuchstaben C, K, M, St, V und W zugewiesen, die größtenteils aus dem ehemaligen Jugoslawien, den sogenannten Balkanländern, der Türkei und Arabien kamen, der deutschen Sprache kaum mächtig waren und deren Vernehmung eines Dolmetschs bedurfte, was zusätzlichen Zeitaufwand verlangte, der unhonoriert blieb. Und das war ihm nicht lieb. Also bewarb er sich wieder zurück an ein kleines Bezirksgericht, in der Hoffnung, dort eine – wie es im Dialekt so schön hieß – „ruhigere Kugel zu schieben“, da dort weniger Aufwand und Arbeit geblieben.
Doch bei der Bewerbung war ihm ein älterer Kollege vorgezogen worden und er – zu seinem vermeintlichen Unglück – auf der Strecke geblieben.
Schon hatte er sich damit abgefunden, weniger Glück und das Nachsehen gehabt zu haben, als das kleine Bezirksgericht mit den glücklicheren Kollegen ein großes, das größte Unglück traf:
Ein Kläger, der in einem Nachbarstreit glücklos agierte und dem den Prozess zu verlieren drohte, war mit einer Pistole zur Verhandlung erschienen und hatte den Gegner, den Richter, den Anwalt des Beklagten, die Schriftführerin und einen weiteren Richter erschossen, der unglücklicherweise auf die Schüsse hin zur Hilfe eilen wollte.
Dem Täter war, trotz sofortigem Einschreiten der Polizei, die Flucht geglückt. Er kehrte an den Ort des Streitgegenstandes, einer die Grundstücksgrenze verletzenden Garage, zurück und richtete sich – angesichts des von ihm angerichteten Unglücks – selbst, um zu verhindern, dass über seine Untat gerichtet werde.
Das ausgelöste Unglück war himmelschreiend:
Die beiden Richter waren jung verheiratet und Väter von Kindern gewesen, der Rechtsanwalt kurz vor seiner Pensionierung, die Schriftführerin eben erst in den Justizdienst eingetreten, der Beklagte zwar im Recht, aber tot. Vom Unglück ihrer Familien und Freunde ganz zu schweigen!
Den Richter Dr. H. H. am Landesgericht bestürzte die Nachricht zutiefst und ihm wurde erschaudernd bewusst, welch Glück er gehabt hatte, zwar keine ruhigere Kugel zu schieben, dafür aber einer lauten, tödlichen Kugel entgangen zu sein. Er hatte dem Älteren inzwischen den Posten gegönnt, keineswegs aber diesen Ausgang! Selbst die oft bemühte, meist vergebliche Gemütsbesänftigung: „Des einen Freud, des andern Leid“ vermochte das unfassbar harte Schicksal nicht zu mildern.
Das Glück des ihm vorgezogenen Kollegen war letztlich kein Glück zu nennen. Des Trostes, der darin gelegen war, bedurften jetzt vielmehr die Angehörigen der Betroffenen, der tödlich Getroffenen.
Und doch hatte dieses Unglück auch sein Gutes an sich:
Als Konsequenz aus diesem Versagen, ja aus diesem Fehlen der geeigneten Sicherheitsvorkehrungen, wurden Schritt für Schritt im ganzen Land an den Gerichten Schleusen errichtet, ähnlich denen auf Flughäfen, die künftig verhindern helfen sollten, dass Schuss- oder andere Waffen in die Gebäude, Gänge und Säle eingeschmuggelt würden.
Und der ehrgeizige Richter Dr. H. H. am Landesgericht hat daraus gelernt, sich lieber mit einem kleinen Glück zu bescheiden als ein ärgeres Unglück zu erleiden.

Nicht im Reichtum wohnt das wahre Glück.
Der verdient, dass man ihn glücklich preise,
Der der Götter milde Gaben weise
Nutzt und unverdientes Missgeschick
Mutig trägt.
Horaz, Oden, IV, 9, 45ff.

4. Glücksgeschichte:
Kein noch so reiches Glück reicht, Unglück abzuwenden

Seit Jahren spielte Felix im Lotto. Er glaubte an sein Glück, obwohl er nicht einmal wusste, dass sein Name „glücklich“ bedeutete. Genauso hätte er Beatus heißen können.
Latein hatte er nie gelernt, und alle Fremdsprachen kamen ihm spanisch vor, zumal er auch diese Sprache nicht beherrschte.
Ebenso wenig beherrschte er seine Spielleidenschaft, die er mit dem Aberglauben betrieb, bestimmte Zahlen brächten ihm Glück. Naiv, wie er war, dachte er über seinen Geburtstag, die Hausnummer und die Postleitzahl einer Freundin nicht hinaus.
Er hatte schon viele kleinere Beträge verloren, um die er sich – sagen wir – einen Kleinwagen hätte kaufen können. Mit einem Kleinwagen wäre er aber keineswegs zufrieden gewesen, da er nach größerem Glück gierte.
Von seiner Großmutter, die an seiner geistigen Entwicklung als Kleinkind manchmal gezweifelt hatte und verzweifelt war, behielt er den Trostspruch in Erinnerung: „Auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn!“
Das brachte ihn weiter, das brachte ihn nach vorn!
Er hatte Automechaniker gelernt und war durch die ihm von Begüterteren zur Reparatur überlassenen Karossen nicht weit davon entfernt, sich auch in einem solch noblen Gefährt einmal fahren zu sehen. Bislang musste er gehen. Also musste etwas geschehen, denn seine Aussicht auf ein teures Auto zerrönne, wenn er nicht alsbald gewönne.
Und tatsächlich – so als wollte er das Sprichwort: „Der Dumme hat ’s Glück!“ nicht Lügen strafen, sondern bewahrheiten – gelang ihm beim Lotto 6 aus 45 ein Doppelsolosechser, der ihn letztlich außerstande setzte, den Gewinn auch nachzuzählen.
Nun konnte er sich all die lächerlichen Wünsche erfüllen, die er seit langem gehegt hatte. Er gab am Ostufer des Traunsees eine prächtige Villa in Auftrag, die ihn mit ihren Erkerchen, Giebelchen, Türmchen, Alkövchen, Veranden, Loggien, Terrassen und Wintergärtlein entzückte, deren protziger Marmor und aufdringliche Vergoldung die Nachbarn zwar blendeten, aber am guten Geschmack des Bauherrn zweifeln ließen, als wäre sein Glück, das sie ihm dennoch neideten, ein teurer Schlüssel zu billigem Kitsch.
Nun konnte Felix auch den Jugendtraum von einem schnellen Auto für sich verwirklichen:
Ein Ferrari – wenn schon kein Maserati – musste es sein. Dazu bedurfte es keiner Italienischkenntnisse, wohl aber einer gewissen Fahrübung, einer langsamen Gewöhnung an höhere Geschwindigkeiten, wollte er die ganze Power , genauer: all die PS, die unter der Motorhaube stecken, erwecken.
Die Prüfung hatte er seinerzeit dreimal wiederholt, ehe er sich mit einigem Glück den Führerschein geholt hatte, der von ihm als Mechaniker in der Autowerkstätte erwartet wurde, um die verschiedensten Wägen der Kunden auf dem Areal zu bewegen.
Der Fahrersitz eines Ferraris, jetzt für Felix nicht mehr zu teuer, brannte unter seinem Hintern doch noch wie Feuer.
Nach Überwindung anfänglicher Gasfuß-Angst-Hemmungen war es ihm schließlich gelungen, forscher und „roscher“ aufzutreten, ohne dass ihn seine jetzt, da er zahlte, zahlreicheren Freunde zur Besonnenheit vergattern konnten.
Als er eine Kurve bei Eisengattern überhöht schnell schnitt, durchschlug er ein Gatter, flog gegen einen Baum – und aus seinem Traum-Leben.
Sein Glück hatte nicht gereicht, mit seinem Reichtum glücklich zu werden.
Auf seinem Grabstein stand Franz Dingelstedts selbstverfasste Inschrift zu lesen: „Er hat im Leben viel Glück gehabt
           Und ist doch niemals glücklich gewesen.“

Wenn das Glück den Menschen wohltun will,
So blickt es sie mit drohenden Augen an.
Shakespeare, König Johann. III, 4 (Pandulpho)

5. Glücksgeschichte:
Das liebe Glück mit der Liebe unliebsamem Unglück

Wenn Simon heute daran zurückdachte, wie es mit der Liebe, die er für Regina empfunden hatte, so weit oder so wenig weit gekommen war, musste er dem Schicksal danken, dass es seinem anfänglichen Glück im Wege stand. Oder er sich selbst?
Als hätte ihn Regina vor sich gewarnt, hatte sie sich nach jedem Schritt, den sie ihm entgegengegangen war, wieder zwei Schritte zurückgezogen.
Damals, als er in Wallern in der Galerie Artifico die Ausstellung seines Freundes Sigi Strasser mit launig-geistreichen Versen eröffnet hatte, versprach alles noch, eine erfüllende Beziehung zu werden. Schon während seiner Lesung war sie, Regina, ihm durch ihr erfrischendes Lachen aufgefallen, wenngleich sie sich im Hintergrund gehalten hatte.
Bei einem Glas des danach ausgeschenkten Weins kam er mit ihr ins Gespräch, wobei es nicht blieb, ebenso wie nur bei einem Glas. Als sie ging, wusste er ihren Namen und ihre Adresse.
In seinem überschwänglichen Glück trank er mit anderen Gästen weiter. Nun durfte er nicht mehr mit dem Auto fahren. Um ihr dies mitzuteilen, rief er sie von einer Telefonzelle am Marktplatz aus an, in der er ihrer Festnetznummer herausgesucht hatte.
Er dürfe schon noch zu ihr kommen, wenn er sich entsprechend „benehme“. Das nehme er sehr ernst, versprach Simon und machte sich auf den Weg.
In ihrem geschmackvollen Landhaus tranken sie weiter. Regina legte Musik auf, sie tanzten miteinander. Sie erzählte von ihrer unglücklichen Beziehung zu Ferdinand, der in Wien mit seinem Installationsbetrieb Konkurs gemacht habe und nur mehr komme, sich ihr Auto auszuborgen. Dabei verlange er jedes Mal Sex, den sie ihm erst verweigere, dann aber leidenschaftlichst mit ihm auslebe. Sie käme sich jedoch dabei bloß „irgendwie benutzt“ vor.
Deshalb küsste Simon sie lediglich, wieder und wieder, aber drang nicht weiter in sie, bis sie ihm ein Zimmer zur Nacht zuwies.
Am Morgen versprach Regina, ihn bald in seinem Haus zu besuchen.
Sollte ihm dieses Glück einer unerwarteten Liebe tatsächlich zuteil werden?
Als sie schließlich kam, hatte er gerade Gäste. Gemeinsam genossen sie das Abendessen. Länger als die andern blieb Regina mit Simon vor dem offenen Kamin sitzen. Und wieder küssten sie einander und tauschten Zärtlichkeiten aus. Als sie sich in ein eigenes Zimmer zurückzog, kündigte sie, sich dafür im Voraus entschuldigend, an, es sei ihre Eigenart, am nächsten Morgen grußlos aufzubrechen, ehe die anderen erwachen würden.
So war es auch; worauf ihr Simon, weil Regina nicht von sich hören ließ, diese Kanzone schrieb:
Schon bist du wieder lange Zeit entschwunden.
Ach, ich ertrüg’ es leichter, wenn ich wüsste,
was mich mit einem Mal so nah dir brachte,
dass du mich küsstest und dass ich dich küsste,
obwohl von dir getrennt ich übernachte,
da unsre Hände sich zuvor gefunden.
All das geschah so sachte.
Nur manchmal hast du dich noch aufgebäumt,
sonst schienst du ausgeglichen und zufrieden.
Und doch hast du nachtsüber mich gemieden,
dich rar gemacht, als hätte ich geträumt.
Am Morgen warst du überhaupt entflohen …
Da steh ich nun, und die Gefühle lohen.

So sehr hatte sich Simon in die Vorstellung einer neuen Liebe verrannt, dass er darunter umso mehr litt, als Regina für vier Monate nach Indien fuhr.
Kaum zurück, trafen sie einander wieder. Sie hatte so viel zu erzählen!
Sie gingen miteinander essen, ins Kino, ins Theater, freilich ohne sich erneut zu küssen, so dass Simon nicht recht wusste, wohin er mit seiner Zuneigung – seiner einseitigen? – zu Regina sollte.
Sie hatte sich schon vor ihrer Reise von Ferdinand getrennt, nach ihrer Rückkehr – für Simon aus heiterem Himmel – ihr Landhaus verkauft, in dem sie noch ein Jahr wohnen durfte, und ging ganz in der Sozialeinrichtung auf, in der sie mit Jugendlichen arbeitete.
Nach dem Strohfeuer der ersten Verliebtheit wollte ihr Simon Zeit lassen, sich zu finden. Aber dadurch schien er sie mehr und mehr zu verlieren.
Bis ihm Regina eines Tages bei einem der unzähligen Telefonate, auf die sich ihre Beziehung reduziert hatte, ohne dass er den Gedanken auf eine künftige Gemeinsamkeit, auf eine gemeinsame Zukunft aufgegeben hätte, mitteilte, sie habe multiple Sklerose. Die Krankheit befalle sie in Schüben und schwäche sie zusehends, ein Ende sei jedoch nicht abzusehen. Früher oder später werde sie zum Pflegefall werden.
Dies traf Simon wie ein Hammerschlag und machte ihn vorübergehend unfähig, darüber nachzudenken, wie es „mit ihnen beiden weitergehen“ soll.
Regina nahm ihm die Entscheidung ab:
„Verzeih mir, mir geht es so schlecht, dass ich dich nicht wiedersehen möchte. Behalte mich so in Erinnerung, wie du mich zuletzt gesehen hast!“
So wenig er wollte, so sehr musste er ihren Wunsch doch respektieren.
Hatte er zu Beginn dieser möglich scheinenden Liebe noch voller Ungeduld auf die Erfüllung ihres, seines, ihrer beider Glück gewartet, so war er nun doch geradezu erleichtert, ihr Unglück mit Regina nicht teilen zu müssen.
Dass er anfangs mit ihr übers Küssen nicht hinausgekommen war, lag wohl daran, dass er dem drohenden Finger des Schicksals unbewusst gefolgt hatte. Hätte er sich unbedacht weiter eingelassen, wäre sein vermeintliches Glück jetzt vor die harte Probe gestellt, auch im Unglück zu Regina stehen zu müssen.
Manchmal erweist sich nämlich das Ausbleiben ersehnten Glücks als noch größeres Glück, als seine Erfüllung letztendlich Unglück bedeutet hätte.

Im Glücke nicht stolz sein und im Leid nicht klagen,
Das Unvermeidliche mit Würde tragen,
Das Rechte tun, am Schönen sich erfreuen,
Das Leben lieben und den Tod nicht scheuen,
Und fest an Gott und bess’re Zukunft glauben,
Heißt leben, heißt dem Tod sein Bittres rauben.
Karl Streckfuß, Gedichte: Denkspruch (im alten Dreifaltigkeitskirchhof in Berlin)

6. Glücksgeschichte:
Als hätte sein Glück einen Sprung erlitten

Reinhold war das Glück nicht gerade hold: Er hatte seine Arbeit verloren, die Freundin war ihm davongelaufen, die Mietwohnung war ihm aufgekündigt worden, er wusste nicht, wovon er seine Schulden begleichen könnte, Angehörige besaß er keine mehr, ein Freund hatte ihn im Stich gelassen, aber er verfügte noch über etwas Bargeld. Das wollte er aufbrauchen, indem er es sich noch einmal gut gehen ließe. Danach würde er den Freitod suchen.
Er buchte eine Reise nach Kroatien, wo er nahe Labins im zweiten Stock eines Privathauses mit der Aufschrift: „Apartmani“ ein Zimmer mit Terrasse bezog und einen fantastischen Meeresblick genoss, der ihn für all die graue Zeit entschädigte, die er im Hinterhof einer deutschen Großstadt gefristet hatte.
Nun war Reinhold zufrieden, wenn nicht gar glücklich.
Eingedenk seines Vorhabens tröstete er sich mit dem Sprichwort: „Wenn es am schönsten ist, …“
Noch war er sich allerdings nicht über die Todesart klar, die er wählen wollte.
Sich zu erschießen, schien ihm am sichersten, dazu fehlte ihm aber eine Waffe wie auch die Möglichkeit, sie hier im Urlaubsort zu erstehen.
Sogar Gift hätte er sich aus einer Drogerie oder Apotheke von zu Hause mitnehmen müssen.
Für einen Verkehrsunfalls, der am unverfänglichsten wäre, herrschte hier zu wenig Verkehr, und die Autofahrer fuhren zu beherrscht und zurückhaltend.
Ein Badeunfall im Meer wäre gleichfalls spektakulär, nur konnte Reinhold einerseits zu gut schwimmen, andererseits war ihm das Wasser anfangs Mai noch zu frisch.
Eisenbahnlinie gab es keine in der Nähe, so dass er sich auf die Schienen hätte werfen können.
So blieb ihm nur noch der Sprung von der Terrasse, von wo aus er – wie er wusste – auf Marmorboden aufschlagen würde und zertrümmert sein. Nicht gerade ein erhebender Anblick, aber er sähe es ja nicht mehr. Zudem könne er den Sprung zur Nachtzeit ansetzen, da sähe er nicht, wohin er springe, und die ihn fänden, sähen ihn auch nicht in seinem ganzen Elend. Überdies ließe sich der „Freisprung“ als unglücklicher, nächtlicher Sturz von der Terrasse tarnen, insbesondere, wenn Reinhold „genügend alkoholisiert“ wäre.
Mithilfe seiner letzten Barschaft, seinem damit endenden materiellen Besitz, hatte sich Reinhold in einen solchen Zustand fortgeschrittener, die Zurechnungsfähigkeit noch nicht ausschließender Alkoholisierung versetzt, ehe er – im ansonsten ungetrübten Besitz seiner geistigen Kräfte – im Dunkeln auf die Terrasse trat, auf die Brüstung des Geländers stieg und sprang …
Freilich nicht in den Freitod, denn der Hausherr hatten – in Erwartung einer neuen Einmietung am nächsten Morgen – alle Matratzen und die Oberbetten der Wohnung im Parterre zum Auslüften auf die Terrasse gebracht.
Darin landete Reinhold unversehrt.
Wie ein geschlagener Hund verkroch er sich unbemerkt wieder in sein Zimmer.
Ehe er betrunken einschlief, versucht er noch vergeblich die Frage zu lösen:
Habe er nun Glück gehabt, dass er so glimpflich – also mit dem Leben – davongekommen sei, oder sei gerade darin sein tragisches Unglück gelegen, dass es ihm nicht vergönnt war, sich umzubringen, worin er für sich das letztmögliche Glück seines Lebens wahrzumachen gehofft hatte?
So nah liegen Glück und Unglück manchmal beieinander, dass Reinhold jetzt mit ihnen im selben Bett schlief.

Das Glück des Lebens besteht nicht [sowohl] darin,
wenig oder keine Schwierigkeiten zu haben,
sondern sie alle siegreich und glorreich zu überwinden.
Hilty, Schlaflose Nächte, I.

7. Glücksgeschichte:
Der einen Unglück, Glück der andern

Margit S. suchte das Kaufhaus C & A auf, um für ihre Tochter eine Bluse umzutauschen. Sie stand vor dem Packtisch neben der Kassa, als eine junge Mutter, offensichtlich Ausländerin, mit ihrem Kinderwagen gegen sie stieß, worauf dieser ein Mädchen hinter Margit zurief. „Aufpassen, Martha! Martha, Aufpassen!“
Margit beugte sich vor und wagte einen Blick in den Kinderwagen, ob das Baby durch den Anstoß auch nicht in seinem Schlaf gestört worden wäre. Die junge Mutter entschuldigte sich bei ihr: „Tut leid!“. Margit nickte ihr freundlich zu, es sei ohnehin nichts passiert.
Hatte sie gedacht, als sie das Geschäft verließ.
Erst als sie beim Automaten eine Straßenbahnfahrkarte lösen wollte, bemerkte sie das Fehlen ihrer Geldbörse. Sie eilte schnurstracks in das Kaufhaus zurück. Da waren die beiden jungen Ausländerinnen samt ihrem Kinderwagen schon verschwunden.
Nachdem sich Margit davon überzeugt hatte, die Geldbörse auch nicht beim Umtausch liegen gelassen zu haben und ihr die Verkäuferin bedauernd mitteilte, dass dies schon der dritte Diebstahl heute Vormittag sei, ging ihr ein Licht auf: Die Karambolage mit dem Kinderwagen war von der jungen Mutter als Ablenkungsmanöver dafür inszeniert worden, dass es dem Mädchen hinter Margit möglich wurde, die Geldbörse unbemerkt aus deren Handtasche zu ziehen. Margit hätte wirklich mehr „aufpassen“ sollen.
Tut leid!
Verärgert verließ Margit das Geschäft, zu ihrer Beruhigung oder Zerstreuung Flotows Arie in der Abwandlung: „Martha, Martha, du entschwandest – und mit dir mein Portmonnee!“ vor sich hin summend.
Am nächsten Polizeiposten, wo sie die Diebstahlanzeige erstattete, vor allem wegen der in der Börse befindlichen zwei Bankomatkarten, des Führerscheins, der Zugsermäßigung, der E-Card und eines Ausweises – an Geld hatte sie zum Glück nur ein paar Euro bei sich gehabt –, teilte man ihr mit, dass wieder eine rumänische Trickdiebsbande in der Stadt sei, der die Polizei unglücklicherweise nicht habhaft werden könne. Nach Erledigung der Formalitäten veranlasste Margit sofort telefonisch die Sperre ihrer zwei Bankomatkarten. Das würde einiges kosten, dazu kämen die Ausgaben für die Wiederbeschaffung der anderen Papiere. Mehr als ärgerlich!
Mit nur geringer Hoffnung ging sie – wie ihr auf der Polizei geraten worden war – zum Kaufhaus zurück, um in den Papierkörben und Abfalleimern der nächsten Umgebung nachzusehen, ob sich die Diebin der nicht verwertbaren Beute etwa auf diesem Wege entledigt habe.
Tatsächlich! Von einer Warenschütte eines gegenüberliegenden Geschäftes lachte ihr ihre Geldbörse traurig entgegen. Erleichtert, wenn nicht glücklich, stellte Margit fest, dass nur die paar Euro fehlten, die Papiere aber die Diebin nicht interessiert hatten.
Der Schaden (durch die unverzügliche Sperre der Bankomatkarten) hielt sich in Grenzen. Margit hatte bei allem Unglück noch Glück gehabt.
Margits Schaden, woraus sie klug werden sollte, war daher weniger von Spott als ihrer leisen Schadenfreude begleitet:
Die Diebin hatte zwar zu Margits Unglück noch Glück beim Ziehen der Geldbörse gehabt, aber zu ihrem Unglück verließ sie das Glück angesichts der geringen Beute umgehend.
Damit überwand Margit die Schwierigkeiten, die sie gehabt hatte, glorreich, sich schlaflose Nächte ersparend.
Und doch hätten sich Glück und Unglück, einerseits wie andererseits, bei gegenseitiger Vorsicht vermeiden lassen.

Wo war, wo ist, wo wird sie sein,
Die Stunde wahrem Glück erlesen?
Sie ist nicht und sie wird nicht sein,
Denn sie ist immer nur gewesen!
Dass wir glücklich waren, wissen
Wir erst, wenn wir es nimmer sind.
Anastasius Grün, Lied und Leben, Läuterung

8. Glücksgeschichte:
Das vermeintlich Unglück kleiner Kinder und ihre großen Glücksmomente

„Wenn ich an meinen Kindheit zurückdenke“, erinnerte sich Herbert, „komme ich doch zum Schluss, dass sie einigermaßen glücklich verlief.“
Er sei am Land aufgewachsen, habe viel im Freien spielen, durch die Felder streifen, sich im Wald verstecken, Tiere beobachten und Früchte ernten dürfen. Wie armselig seien doch Kinder heutzutage, die im Verkehrslärm zwischen gestressten Erwachsenen und überforderten Eltern wie Lehrern aufwüchsen, in einer mehr und mehr vergifteten Umwelt!
Sein ganzes Glück habe darin bestanden, dass er einen Stoffteddybären mit Knopfaugen geschenkt bekommen habe, und seine Schwester habe sich über eine einfache Puppe gefreut, die weder sprechen noch sonstige „Kunststücke“ konnte.
Kunststück!
Ihre Wahrnehmungen seien noch überschaubar, sie von Eindrücken noch nicht überflutet, vom Massenkonsum und von der Begierde, wie die andern alles Erdenkliche besitzen zu müssen, noch verschont, noch nicht übersättigt gewesen.
Sie hätten nicht zahlloses teures Spielzeug haben müssen, noch dazu elektronisches, motorisiertes oder digitales, das bald irgendwo herumlag.
Kleine Freuden hätten damals schon „der Kinder großes Glück“ bedeutet.
Andererseits sei aber auch das Unglück schmerzhafter gewesen, wenn ihnen etwas abhanden gekommen sei, sie etwas verloren oder kaputt gemacht hätten.
Er erinnere sich noch heute an seine unsägliche Traurigkeit, weil ihm das Rad an seinem Holztretroller gebrochen war.
Wie untröstlich sei seine Schwester gewesen, als er ihr einen Kochlöffel aus ihrer Puppenküche versteckt hatte!
Das höchste der Gefühle sei es gewesen, zu einem Geburtstag oder einem Kinderfest eingeladen zu werden, geschweige denn, ein eigenes geben zu dürfen.
Aber auch Ereignisse, bei denen sie Glück gehabt oder ein ärgeres Unglück abgewendet werden konnte, seien ihm in Erinnerung geblieben:
Manchmal glaube er noch heute die anschwellende Zunge in seinem Mund zu spüren, vom Stich einer Biene, die in einer Birne gesessen sei, in die er unachtsam gebissen habe, so dass er daran erstickt wäre, hätte ihn die Großmutter nicht schleunigst zum Arzt gebracht.
Seine Schwester wiederum sei einem Hund nachgelaufen und unter das Hinterrad eines schweren Holzfuhrwerks geraten. Das habe ihr die Milz zerquetscht und hätte ihren Tod bedeutet, hätte die Mutter nicht damals schon ein Auto besessen und das Kind sofort in ein Krankenhaus gebracht.
Bei allem nicht ganz vermeidlichen Unglück hätten Kinder ja meist das Glück, dieses Unglück glücklich zu überstehen, ob man nun an einen Schutzengel glaube oder nicht.
Später zeigten sie manchmal sogar die Narben, die sie als Kinder erlitten hätten, mit einem gewissen Stolz und mit noch nicht verdrängtem Schauer, um zu betonen, welch Glück im Unglück sie gehabt hätten.
Vorfälle, die sie traurig und unglücklich gemacht hätten, weil sie geschlagen, gekränkt oder geringschätzig behandelt worden wären, hätten sie Gott sei Dank meist verdrängt oder vergessen.
Der Ablauf der Zeit lasse Glück und Unglück milder erscheinen. Kinder besäßen ein glücklicheres Naturell, schloss Herbert, der sich nicht schwertat.