ICH ZIEHE DAS HÄUBCHEN, MEIN TÄUBCHEN
Mir wäre sie überhaupt nicht aufgefallen. Meine Mutter aber, die in der Stadt aufgewachsen ist und dort mit ihrer Großmutter oft in Parks ging, um Tauben zu füttern, meine Mutter hat sie sofort auf dem Dach unseres Nebengebäudes entdeckt.
„Philipp“, sagte sie, auf unserem Schuppen sitzt eine besondere Taube. Die stammt nicht aus dem Taubenschlag vom Lehner-Bauern.“
Der Lehner-Bauer war unser nächster Nachbar am Land. Seit geraumer Zeit hatte er den alten Taubenschlag wieder besetzt, womit auch bei uns ein ewiges Gegurre anhob, das anfangs sehr störte, woran wir uns aber alsbald gewöhnten.
„Jetzt sag nur noch, du kennst jede Nachbartaube persönlich!“, zog ich meine Mutter auf.
„Namentlich haben sie sich mir zwar noch nicht vorgestellt, aber aufgrund ihrer braunen und stahlblauen Farbe erkenne ich sie schon. Diese Taube ist jedoch gescheckt. Keine Lehner-Taube!“
„Dann könnten wir sie vielleicht fangen und als Delikatesse servieren. Gebratene Tauben sind mir seit den Märchen meiner Kindheit ohnehin keine mehr in den Mund geflogen.“, versuchte ich zu scherzen, indem ich zur Nachschau aufbrach.
Saß da doch wirklich so eine verlorene Taube, die einigermaßen erschöpft wirkte und mich bis auf fünf Meter herankommen ließ.
Meine Habichtsaugen entdeckten zwar keine Beute, aber doch einen farbigen Ring an einem Bein und eine Art Behältnis am Rücken des Vogels.
Eine Brieftaube, ein „Rennpferd des kleinen Mannes“, Philipp, das mir als „Pferdefreund“!, schoss es mir durch den Kopf. Sie befindet sich wohl auf dem Rückflug vom Auflassort zu ihrem Heimschlag und legt hier ein Päuschen ein, weshalb sie auch bei meiner weiteren Annäherung nicht abhob. Die ist vom langen Fliegen sicher durstig, vermutete ich, stellte eine flache Schale in ihrem Sichtfeld auf und füllte sie laut plätschernd mit Wasser.
Kaum hatte ich mich zurückgezogen, um etwas Mais und Gerste, Sonnenblumenkerne und Leinsamen zu holen, saß sie schon am Schalenrand und trank. Während ich ihr mit dem Futter vorsichtig näher kam, schien sie solch Vertrauen in mich gefasst zu haben, dass sie mir aus der Hand fraß.
Nun konnte ich meine Neugierde nicht mehr bezwingen und holte aus dem „Rucksack“ der Taube ein kleines Röllchen. Ob das Briefgeheimnis auch für Brieftaubenpost gilt?
Gleichwie, da ich die Taube „vor dem sicheren Flugtod gerettet“ hatte, musste ich auch ihre weiteren Angelegenheiten klären.
Da stand in ungelenken Schriftzügen:
„Mein Täubchen!
Zauberhaft waren die Wochen,
die wir einander geliebt,
wie es kein zweites Mal gibt,
hatte ich auch nichts versprochen.
Nun flieg ich wieder nach Haus,
was ich schon immer gewusst.
Setzt ‘s auch ein Ende der Lust,
ist unsre Liebe nie aus!
Lass ich dich traurig zurück,
werde auch ich manchmal weinen.
Damit verebbt unser Glück.
Wie ein Verlust will ‘s mir scheinen.
Mir warst du schönstes Schmuckstück.
Du – weiß ich – findest dir einen.“
Ein Liebessonett, wenn auch in ungewohnten Daktylen. Offenbar ein Abschied für immer. Der ausländische Liebhaber zieht seinen Hut und weicht. Die verlassene Geliebte hat es nicht leicht. Den geringsten Teil der Last trägt die Brieftaube. So liebevoll, wie ich sie geatzt hatte, wollte ich ihre Züchterin trösten.
Ich schrieb daher auf das Zettelchen:
„So einer wäre ich gern!
Liegt es mir auch äußerst fern,
mich dir so plump aufzudrängen.
Lass nur dein Köpfchen nicht hängen!“
Darunter setzte ich meine Telefonnummer, bevor ich die Botschaft wieder einrollte und der Taube überantwortete.
Kurz danach hob sie ab.
„Komm gut nach Deutschland zu meinem neuen Liebchen!“, rief ich ihr nach. Ich hatte an ihrer Beringung die Buchstaben „DV“ ausgemacht, wovon ich wusste, dass sie für „Deutscher Brieftaubenverband“ stehen.
Ich dachte schon nicht mehr an diesen Vorfall mit dem Täubchen, als mich Wochen danach tatsächlich seine Züchterin anrief. Zucht und Anstand wahrend, habe sie lange erwogen, ob sie sich an mich wenden könne. Sie bedanke sich für die Betreuung ihres
Lieblingsvogels wie auch für die ihr angebotene „Betreuung“.
Wir trafen einander, ohne das Täubchen.
Heute ist sie meine Frau.
Hatte ihr Liebhaber auch den Hut gezogen, war mir nach dem Täubchen auch ihre Neigung zugeflogen, die sie unter die Haube brachte, unter ein „Häubchen“ im Innviertel auf dem Lande, wo wir mit mehreren Tauben nun leben.
Wir sind dem österreichischen Brieftaubenverband (ÖBTZ) beigetreten, weil wir dem Täubchen unser Lebensglück verdanken.