Hätte ich ein Auge zudrücken sollen anstatt ihm die Augen zuzudrücken?

„Wir sollten deinen Freund Lukas einmal zum Essen einladen“, meinte meine Frau völlig unbefangen. Da hatte sie aber nichts von „Trinken“ erwähnt. Damit hat dann allerdings das Unglück seinen Lauf genommen.
Am Ostersonntag haben wir Lukas zum Osterschinken und zum Lammbraten gebeten. Er brachte – wie es sich für einen Gast gehört, der mit offenen Augen durch die Welt geht, der aufmerksam, wach und empfänglich für alle Eindrücke ist – ein augenfällig bezauberndes Ostergesteck – ich traute meinen Augen nicht, denn als ich es sah, wollte ich es nicht glauben – und einen erlesenen Wein mit, bei dessen Anblick einem schon die Augen übergehen (so überwältigt war ich allein vom Anblick der Flasche!).
Als Lukas damit zum ersten Mal meiner Frau unter meinen Augen, also in meiner Gegenwart, vor Augen trat – sie hatte ihn bisher noch nie gesehen –, „machte er ganz schön Augen“, das heißt, er staunte über ihre auffällige Schönheit, die bei jedem normalen Mann etwas fürs Auge ist, hübsch hergerichtet, appetitlich zurecht gemacht, insgesamt ein erbauender Anblick, so dass man sie nicht gleich wieder aus den Augen verlieren möchte.
Die beiden standen einander Aug in Aug gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, einander fest ansehend, und für mich war mit bloßem Auge zu erkennen (ohne jedes Hilfsmittel), dass sie ihm gefiel. Mir war, als würde auch ich sie mit anderen Augen ansehen, sie von Lukas‘ Gesichtspunkt aus beurteilen. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, wäre ich nicht selbst Zeuge dieser sich in seinen strahlenden Augen widerspiegelnden Überraschung gewesen, wäre mir seine Faszination nicht selbst sofort in die Augen gesprungen und sogleich aufgefallen und hätte sie meine Aufmerksamkeit nicht schon im ersten Augenblick erregt, hätte ich Lukas nicht scharf ins Auge sehen, ihn fest anschauen können, so als sähe ich einer Gefahr ins Auge, begegnete ich mutig der Begegnung meiner Frau mit Lukas.
Beate, meine Frau, schlug zwar die Augen –wie verschämt – nieder, hielt sie aber andererseits unverschämt offen, Lukas aufmerksam beobachtend, ja, die Augen direkt auf ihn richtend. Im kurzen, funkelnden Aufblitzen ihrer Augen hätte ich – wären meine Augen im Vertrauen auf die Loyalität meines Freundes nicht mit Blindheit geschlagen gewesen – augenblicklich erkennen müssen, dass sie ein Auge auf ihn geworfen, sich stante pede in ihn verliebt hatte.
Wie Lukas seinerseits mit den Augen zwinkerte, ohne Beate begehrlich zu betrachten oder mit den Augen zu verschlingen, aber ihr immerhin schöne Augen machend, mit ihr kokettierend, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln suchend, hätte mir rechtzeitig die Augen öffnen müssen. Ich hätte ein sicheres Auge dafür haben müssen, was sich hier anzubahnen begann, hätte diese ersten Eindrücke richtig aufnehmen, das Wesentliche rechtzeitig erfassen sollen, aber meine Augen waren nicht scharf genug, um diesen „kleinen Fehler“ zu bemerken, dass die beiden einander von Anfang an verliebte Augen machten.
Ich hätte ganz Aug und Ohr sein sollen, dann hätte mir die weitere Entwicklung beim gemeinsamen Essen die Augen geöffnet.
Hätte ich die Augen angestrengt, mit welcher Zuvorkommenheit Beate Lukas schon bei der Vorspeise vorlegte, hätte ich die Augen aufgemacht, mit welch liebenswürdiger Verbindlichkeit Lukas darauf reagierte, dann wäre es mir ein Leichtes gewesen, von ihren Augen abzulesen, was sie von einander erwarteten.
Ich deutete nämlich Lukas Appetit so, als wären seine Augen größer als sein Magen.
Dass Lukas als leibliches Wohl nicht das Essen vor Augen hatte, sondern den verführerischen Leib Beates, dessen wurden meine Augen erst viel später gewahr.
Selbst als Beate Lukas ein Glas Sekt einschenkte, hatte ich noch kein Auge für seine Willfährigkeit, achtete ich darauf noch nicht, passte ich zu wenig auf. Von der Harmlosigkeit ihres Augenkontaktes überzeugt, ließ ich sie mehr oder weniger aus den Augen.
Und damit galt auch: „Aus den Augen, aus dem Sinn!“
Denn was meine Augen sahen, glaubte mein Herz nicht, es ließ sich durch den äußeren Anschein der Unverbindlichkeit täuschen.
Jetzt erst gehen mir im Nachhinein die Augen auf, erkenne ich die Zusammenhänge, auf die ich ein wachsames Auge hätte haben sollen. Vor meinem geistigen Auge sah ich nur das arglose Entgegenkommen, die natürliche Freundlichkeit.
Dass dies früher oder später ins Auge gehen, nämlich schlimm ausgehen würde, ahnte ich nicht.
Ich konnte doch nicht annehmen, dass Beate Lukas nur um seiner schönen Augen willen anhimmeln würde, seine persönlichen Verdienste kannte sie ja nicht. Auch durfte ich diese flugs fortschreitende Annäherung nicht auf zwei Augen stellen, die Verantwortung dafür nicht nur einer einzigen Person übertragen.
Da sie sich offenbar, meinen Augen entzogen, sogar unter dem Tisch Zeichen gaben – ich konnte meine Augen ja nicht überall haben und so umsichtig sein, dass mir nichts entging –, da sie einander nicht nur zu tief in die Augen (wie auch zu tief ins Glas) sahen, sondern auch andere Anstalten des Entgegenkommens machten, habe ich wohl mit offenen Augen geschlafen, sonst wäre es mir schon früher wie Schuppen von den Augen gefallen, was hier geschah, hätte ich die unheilvollen Zusammenhänge eher erkannt.
Hätte ich mir nur kritisch vor Augen geführt, dass Lukas während des Nachtisches kein Auge von Beate abwenden konnte, sie ständig ansehen musste und sie nicht aus den Augen ließ, wäre ich nach dem vierten Glas Wein nicht so leichtgläubig schlafen gegangen, anstatt Augen wie ein Luchs zu haben, als Lukas meiner Frau die Hand erst auf die Schulter und dann um den Hals legte. Für mich hatte es noch immer den Augenschein ausgelassener Spielerei, den äußeren Anschein verspielter Ausgelassenheit.
Vielleicht hatte meine Frau anfangs wirklich nur „blaue Augen“ gehabt, war sie so blauäugig gewesen, Lukas würde die Avancen, die sie ihm leichtfertig machte, nicht ernst nehmen. Hätte ich diese Ermutigung ihrerseits wahr und ernst genommen, wäre ich so wütend geworden, dass ich ihr sofort die Augen ausgekratzt hätte.

Als ich nach zwei Stunden munter wurde und die Augen nicht wieder zutun konnte, weil ich mir vor Augen führte, dass Beate noch immer nicht nachgekommen war und sich niedergelegt hatte, und ich mir diese Tatsache – wieder ernüchtert und voll wach – vor Augen hielt und den Grund dafür bedachte, stürzte ich ins Wohnzimmer und – ich traute meinen Augen nicht, aber jetzt gingen mir die Augen auf! – ertappte Beate und Lukas bei den schamlosesten Intimitäten. Wo hatte ich meine Augen denn gehabt?
Mit den Worten: „In meinen Augen bist du kein treuer Freund, sondern ein mieser Schuft!“ riss ich Lukas von Beate herunter.
Ich hätte ihm ein Auge ausschlagen wollen, damit er sich nicht weiter in Beate „verschauen“ könnte, sagte aber nur forsch, er möge mir ins Nebenzimmer folgen, ich hätte diese Entgleisung mit ihm unter vier Augen zu besprechen.
Als Lukas mir gesenkten Auges und schuldbewusst nachkam, er beschämt die Augen niederschlug und ihm sogar die Augen überzugehen, er zu weinen zu beginnen schien, so dass er feuchte, ja verquollene Augen bekam, und er mich bat, ich möge doch ein Auge zudrücken, so ernst sei ihm das ja gar nicht gewesen, erfasste mich eine heilige Wut, ich griff nach einem Kerzenleuchter und stieß ihn ihm ins rechte und ins linke Auge.
Dann wurde mir schwindelig, und alles schwamm mir vor den Augen.

Nachdem meine Augen wieder einigermaßen klar sahen, herrschte ich ihn an:
„Jetzt siehst du, was einem passiert, wenn man sein Auge auf jemanden wirft, der einen nichts angeht!“, stieß ich hervor – und abermals mit dem Kerzenleuchter heftig zu.
Damit wollte ich ihn zwingen, ihm den Daumen aufs Auge drücken, damit er künftig nicht wieder in fremden Gefilden jage.
Auch ich würde weiterhin meine Augen vor den ersten Anzeichen einer unzulässigen Annäherung an meine Frau nicht mehr verschließen.

Würde Lukas als Folge meines unüberlegten Angriffs seine Augen für immer schließen, könnte ich sie ihm nur noch zudrücken.

Meine Frau allerdings müsste ich in Zukunft schärfer im Auge behalten!