GENBEDINGTES FAMILIENUNGLÜCK?

Meine Eltern hatten mich mit 10 Jahren in ein Internat „gesteckt“, 250 km entfernt, weil ich dort ein Stipendium genoss. Das war aber auch schon der einzige Genuss, dessen ich in Graz teilhaftig wurde. Denn die Zeit dort hat mir zwar einen höheren Bildungsstand verschafft, aber viel Einsamkeit beschieden, obwohl ich in einer sogenannten „Familie“ untergebracht war und mit dreißig Zöglingen einen Schlafsaal teilte, davor einen Waschraum mit betonierten Trögen bei kaltem Wasser, in den alle nachts zu „Leibesübungen“ befehligt wurden, sobald irgendwer nach Verkündung der Nachtruhe einen Muckser gemacht und dem nachforschenden Erzieher kein Geständnis abgelegt hatte.
Kollektivstrafe: hundert Liegestütze oder Kniebeugen, was erst allmählich von den Stärksten geschafft werden konnte. Jedenfalls waren wir danach so kaputt, dass wir widerspruchslos einschliefen.
Damals schwor ich mir, meinen Kindern so ein Internat einmal zu ersparen: nach dem Tod meiner Frau ein „Meineid“!

Die Strafen selbst fürchtete ich nicht, da ich auch zuhause bei Unbotmäßigkeiten oder dummen Streichen oft geschlagen worden war, von Mutter mit dem Kleiderbügel oder einem Kochlöffel, vom Vater, nachdem er heimkam und von meinen Missetaten erfahren hatte, mit einem Lederriemen. Heute bin ich meinen Eltern deshalb auch nicht mehr böse, ich führe es auf die damals „üblichen strengen Erziehungsmethoden der Nazizeit“ („Hart wie Kruppstahl …“) zurück. Schließlich: Was uns nicht umbringt, macht uns stark!
Der Großvater, ein Oberlehrer auf dem Land, hatte die Schüler wie auch seine Söhne noch mit „dem Staberl“, einer Weidengerte, gezüchtigt.
In Erinnerung blieb mir nur, dass meine Schwester und ich einmal stundenlang „Scheitelknien“ mussten und dann noch länger in einen Ziegenstall gesperrt wurden, weil es in unserem Zimmer so erbärmlich stank und wir nicht eingestehen wollten, wie und wohin wir „das gemacht“ hätten, bis meine Mutter draufkam: eine verdorbene Fleischkonserve auf dem Kleiderschrank war geplatzt.

Bloß zweimal während des Schuljahrs – zu Weihnachten und in den großen Ferien – durfte ich nach Hause. Ausgang gab es nur für jene, die in Graz wohnten.

Es dürfte in den Ferien 1955 gewesen sein, ich wurde damals gerade 14, als ich in unserem Dachzimmer im Haus auf dem Land, weil die Eltern gerade nicht da waren, in den Schubladen des Sekretärs meines Vaters meine Neugierde befriedigen wollte. Da stieß ich auf Briefe an meinen Vater, auf – so viel verstand ich schon –, auf offensichtliche Liebesbriefe an ihn, von einer Kollegin aus dem Betrieb, in dem er arbeitete. Sie enthielten für mich damals kaum fassbare Liebesbezeugungen, sprachen die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft aus, was ich sofort als klare Aufforderung verstand, mein Vater möge sich von meiner Mutter trennen, und was mich überraschte und schmerzte, und sie gipfelten in der Drohung, Beate (so hieß die offenbar wenig Glückliche!) werde sich umbringen, wenn sich mein Vater nicht für sie entschiede.
Das war für mich denn doch entschieden zu viel! Schnell verstaute ich die Briefe wieder und beseitigte alle Spuren.
Erst Tage später fragte ich wie beiläufig meine Mutter, die dabei noch nichts argwöhnte und mir bereitwillig Auskunft gab, ob Vater mit einer „Beate“ zusammenarbeite: Ja, da wäre eine Beate gewesen, die habe im Vorjahr Selbstmord begangen, indem sie das Gas aufgedreht habe.
So erfuhr ich, dass auch meine Tante auf solche Art aus dem Leben geschieden sei. Das ließe den Hinterbliebenen immer den Trost, es wäre ein „Unfall“ geschehen. In Wahrheit wäre Tante Helene von ihrem Mann misshandelt worden, was sie in den Tod getrieben hätte.
In welche Familie war ich da hineingeboren, in der die Männer sich ihrer Frauen solcherart entledigten?
Ich würde später einmal zu Frauen nicht „so gemein sein“.

Anders vielleicht?, frage ich mich heute, 48 Jahre später.
Im Sommer 2003 hatte ich mit meiner langjährigen Freundin Hermi aus Graz gebrochen, weil sie mir beim letzten Aufenthalt auf Brac völlig unbegründete Eifersuchtsszenen gemacht hatte: Ich war auf einer Bergwanderung (als Folge eines Herzinfarktes im Jahr davor) etwas zurückgefallen, eine mir bis dahin unbekannte Begleiterin hatte mich aufgemuntert, weshalb ich sie auf ein Getränk einlud. Hermi, die es vorgezogen hatte, sich am FKK-Strand in der Sonne bräunen zu lassen, kam dazu und verdächtigte mich seither, ein „Verhältnis angebahnt“ zu haben. Verständlich, wenn man bedenkt, dass sie von ihrem Mann einer jüngeren Frau wegen verlassen worden war. Da meine Unschuldsbeteuerungen nichts halfen, war ich der Beziehung überdrüssig. Erst ein Jahr später erfuhr ich durch Zufall, dass die rüstige Hermi, die noch auf Brac mit jüngeren Männern Tennis gespielt hatte (ohne damit meine Eifersucht zu wecken) innerhalb weniger Monate nach unserer Trennung in ein Heim gekommen und dort – vermutlich an Krebs – verstorben war. Ihr Sohn und dessen Familie, die mich kannten, hatten mich nicht davon verständigt. Da grämte ich mich denn doch und fragte mich immer wieder, ob ich durch meinen plötzlichen Bruch nicht diese Krankheit ausgelöst hätte. Und ich warf mir vor, schon früher einige Frauen unglücklich gemacht zu haben, indem ich sie verlassen hatte. Von einer hatte ich sogar Jahre später erfahren, dass sie abgetrieben hatte.
Ich war also auch nicht viel besser als mein Vater! Genbedingt vielleicht? Ob sich dieser Charaktermangel von Generation zu Generation weitervererbe? Wenn ich daran denke, dass mein Jüngster schon zwei Frauen mit drei unehelichen Kindern hat sitzen lassen!
Mein Vater sei ja auch sonst kein Heiliger gewesen, fiel mir dabei ein und, wie er einmal wöchentlich allein in die Sauna gegangen sei und mit einem trockenen Handtuch heimgekommen, bis ich ihm nachfuhr und feststellte, dass er eine „Freundin der Familie“, deren Mann, sein Freund, im Krieg gefallen war, aufsuchte, mit der er es offenbar trieb.
Wie war ich von dieser Welt enttäuscht, als ich – damals neunzehnjährig – meiner Mutter davon berichtete, die mich aufforderte, mich da herauszuhalten, sie wüsste ohnehin Bescheid.
Meine Mutter starb mit 59, nicht aus Gram darüber, sondern an einem Herzinfarkt.
Ich habe zwanzig Jahre später einen Herzinfarkt überlebt.
Meine Frau starb sechs Wochen nach meiner Mutter, innerhalb von 24 Stunden, an einer Sepsis nach einer Lungenentzündung. Sie war immer gesund gewesen. Zehn Jahre davor hatte sie bei einem Verkehrsunfall die Milz verloren.
Auch meine Schwester erlitt, mit acht Jahren, weil sie unter ein schweres Holzfuhrwerk geraten war, eine Milzruptur, die sie bis heute überlebte.

Meine Frau habe – das vertraute mir erst vier Jahre nach ihrem Tod eine ihrer Freundinnen an – mich verdächtigt, ein Verhältnis mit einer Nachbarin unterhalten zu haben. Völlig zu Unrecht! Ich habe keine Möglichkeit mehr, ihr das Gegenteil zu beweisen. Geringer Trost ist mir nur, dass meine Frau nicht an gebrochenem Herzen starb.
Waren diese Todesfälle nicht auch familienspezifisch?
Wenn ich bedenke, dass der jüngere Bruder meiner Frau, der uns oft besucht hatte, mit 26 plötzlich seine Freundin dadurch verlor, dass sie auf dem Weg zur Schule – sie war Lehrerin – mit ihrem Auto gegen einen Baum prallte. Wieder ein Verkehrsunfall als Auslöser!
Und da war da noch ein Cousin meiner Frau, der – ebenfalls Lehrer – mit 32 einem Herzanfall erlag, wieder eine Herzattacke.
Gab es andere Familien, in denen der Tod innerhalb so weniger Jahre solch Ernte hielt?
Freilich im heutigen, (sogenannt) „fortgeschrittenen Alter“ darf ich mich darüber nicht wundern, neben Hermi zuletzt weitere drei meiner Intima für immer verloren zu haben:
Edith, die ich bei der Vernissage eines Juwelierfreundes kennen gelernt und die mich eine Zeit lang regelmäßig in Linz besucht hatte, von deren Tod ich erst erfuhr, als mir ihr Sohn schrieb, mein Geburtstagsbrief an sie sei zu spät gekommen.
Ilse, eine Kunsthistorikerin, die mir viele Bauten und Denkmäler in Österreich nahe gebracht hatte, bis sie – von mir einer Reise in den Süden wegen vier Monate vernachlässigt – wieder zu ihrem Freund davor, dem ich sie „ausgespannt hatte“, zurückgekehrt war, den sie dann geheiratet hatte und der mir erst zwei Jahre nach ihrem Tod davon Nachricht gab, indem er mir alle Liebesbriefe und Gedichte, die ich ihr geschickt hatte, zurücksandte, diese „Unterlagen seien im Nachlass aufgetaucht“, er möchte sie nicht wegwerfen, wenn, dann sollte das meine Entscheidung sein. Späte Bereinigung oder Abrechnung?
Schließlich Pauline, von der ich mich leicht hatte trennen können, weil sie mich mit einem Freund hintergangen hatte, der ich aber weiter Freundschaftsbesuche abstattete, nie ohne eine Flasche Wein, bis sie heuer – an Alkoholspätfolgen? – starb.
Auch ein Onkel und mein ältester Sohn waren alkoholkrank.

Da sitze ich nun bei einem Glas Schnaps und sinniere, ob nicht all das Unglück, dass meiner Familie widerfuhr, genbedingt war.
Zum Wohl!