Beitrag zum 13. Menülesungs-Wettbewerb zum Thema: „München“

MÜNCHEN STICHT ALLES AUS 

Bei meinem letzten Besuch in München wurde ich entfernter Zeuge eines außergewöhnlichen Vorfalls:

Ich hatte mich diesmal der bayrischen Hauptstadt vom Südwesten her genähert und die Lindwurmstraße entlang ans Zentrum herangeschlängelt.

Beim Sendlinger Tor stieß ich auf den Altstadtring, jene innere Ringstraße Münchens, die die äußere Begrenzung des Stadtkerns bildet und der Stadtmauer folgt, die seit dem 14. Jahrhundert die Stadt nach außen hin schützen sollte.

Ich wandte mich nach Osten und gelangte zum Viktualienmarkt.

Hier werde, wie mir mein Sohn Michael erzählt hatte, am Faschingsdienstag durch den Tanz der Marktfrauen der Höhepunkt des Münchner Karnevals gefeiert: Die Standfrauen – Gemüsefierantinnen, Metzgerinnen und Fischhändlerinnen, maskiert und kostümiert – tanzen zwischen Ständen, Kisten, Körben und Fässern herum, sie werfen gesalzene Heringe und unflätige Lieder ins Publikum und stecken bunte Federn in die Bürzel gerupfter Hühner: eine Schaulustige ansteckende Stimmung!

Aber heute war nicht Faschingsdienstag, vielmehr wollte ich eine Freiluft-Vorstellung des Internationalen Theater-Festivals im Olympiapark besuchen, was mich am Viktualienmarkt angesichts der beiden Brunnen mit den Bronzefiguren von Liesl Karlstadt und Karl Valentin an deren tolle Kabarettnummern erinnerte, deren eine ich immer in meine Deutschstunden einbaute, um meinen Schülern klarzumachen, dass es im ersten, zweiten und vierten Fall Mehrzahl jeweils „Semmelknödel“ heißt und nur im Dativ Plural „Semmelknödeln“, dass es weder in Österreich noch in Bayern „Semmelnknödeln“ oder auch nur „Semmelnknödel“ gibt, obwohl das Plural des deutschen Brötchens in allen vier Fällen „Semmeln“ lautet, so dass man annehmen müsste, ein Semmelknödel bestehe nur aus einer Semmel. Jedoch wie steht es mit mehreren Semmelknödeln? Wie viele Semmeln muss man dafür verknödeln, um sich darüber zu zerkugeln?

So viel zum Viktualienmarkt, den ich links liegen ließ, während ich mich auf der Frauenstraße – wohl nicht nach den Marktfrauen benannt? – dem Isartor näherte.
Am Altstadtring ging ’s in nördliche Richtung am Armeemuseum vorbei zur Prinzregentenstraße, wo mir das „Haus der Kunst“ nicht nur ins Auge fiel, sondern mit seinen vielen Kunstwerken besonders gefiel, wenngleich mir dabei wieder einfiel, dass es sich beim 1933 - 35 erbauten, neoklassizistischen seinerzeitigen „Haus der Deutschen Kunst“ um eines jener drei Gebäude der Nationalsozialisten handelt, die der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg entgingen, wie auffälligerweise auch der „Führerbau“, Hitlers persönliches Büro, und die benachbarte NSDAP-Parteizentrale auf dem damals neu gestalteten Münchener Königsplatz, die heute die viel harmonischere (weil philharmonische) Staatliche Hochschule für Musik und die Kulturinstitute beherbergen. Alle drei Bauten sind Entwürfe von Hitlers Chefarchitekten Paul Ludwig Troost, der – mir wenig zum Trost! – auch die Innenausstattungen der Dampfer des Norddeutschen Lloyd plante, die nicht so schnell sanken wie das tausendjährige Reich, das dagegen nicht – auch bei Lloyd nicht! – zu versichern war.
Zudem zog ich den niederländischen Maler Cornelis Troost (1697-1750) dem deutschen Paul Ludwig vor, zumal mich sein fünfteiliger Zyklus „Das Gastmahl des Biberius“ als humoristisches Sittenbild an meinen derzeitigen Hunger seit den beobachteten Köstlichkeiten des Viktualienmarktes gemahnte und ich versucht war, meinen Durst bibendo vel bibenter, jedoch nicht bibbernd (bei Biberius?) zu löschen.
Aber ich musste noch bis zum Restaurant im Olympia- und Fernsehturm durchhalten.

Also folgte ich weiter dem Altstadtring bis zur Ludwigstraße, die niemand Geringerer als Ludwig I. Anfang des 19. Jahrhunderts anlegen hatte lassen und die 1,2 km in nördliche Richtung bis zum dreibogigen Siegestor führt, das mit seinen Inschriften: „Dem Sieg geweiht“, „Vom Krieg zerstört“ und „Zum Frieden mahnend“ wie ein Fanal wirkt.

An der Bayrischen Staatsbibliothek (rechts) und an der Ludwig-Maximilian-Universität (linker Hand) vorbei gelangte ich in die Leopoldstraße, die ich an ihrer Kreuzung mit dem Mittleren Ring westwärts verließ, und so in den Olympiapark, mein heutiges Ziel.
Da sich mein Appetit wieder verflüchtigt hatte, kehrte ich – statt in einer echten Münchner Gastwirtschaft – in der reich mit Ikonen ausgestatteten Kirche im Olympiapark ein, um dort gedanklich auf den Spuren des russischen „Heiligen“ Timofei Prokorow zu wandeln, der bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Bergmann im Don-Becken gewesen war und behauptet hatte, beim deutschen Rückzug nach Österreich zur Zwangsarbeit verschleppt worden zu sein, wonach er – einer Engelsvision folgend – in den Fünfzigerjahren in München begonnen hatte, auf dem Oberwiesenfeld aus Schutt und Schrott diese Kirche zu erbauen, die ursprünglich für baufällig erklärt, dann aber in den Olympiapark einbezogen wurde.

Ich sprach noch ein unorthodoxes Gebet für die zwei Sportler der israelischen Mannschaft, die am Morgen des 5. Septembers 1972 von der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“, und für alle neun Geiseln, die bei der darauf folgenden Scharfschützenaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck getötet worden waren.

Dann fand ich mich – welch Kontrast! – bei der Freiluft-Aufführung des Münchner Straßentheaters unmittelbar neben dem Olympiastadion ein, bis die Darbietung im Rahmen des Internationalen Theater-Festivals, wovon ich – in der Menge eingekeilt – nur mit bekam, dass die einem Mord zum Opfer gefallene Jungfrau (eine nicht gefallene, aber gefällige!) von einer Geistheilerin ins Leben zurückgerufen wird, erst zögerlichen, bald frenetischen Applaus nach sich zog, in mir jedoch den Eindruck hinterließ, entweder einer Pantomime beigewohnt oder wegen des Lärmens des Publikums einen vielleicht sogar geistreichen Text nicht gehört zu haben.

Mit dem bejammernswerten, ja jämmerlichen Gefühl, Versäumtes nicht nachholen zu können, bestieg oder genauer: beliftete ich den 290 m hohen Olympiaturm (das heißt: erklomm ihn per Aufzug), freilich nur bis zur zweiten Aussichtsplattform. Von hier aus bot sich mir ein grandioser Rundblick, gegen Süden bis zu den Alpen, zu dessen Nähe und Schärfe der zurzeit herrschende Föhn beitrug. Für mich ein einmaliges, noch dazu ungefährliches Erlebnis, da ich mich als almgewohnter Österreicher für Berge mehr aus der Ferne als im anstrengenden Anstieg interessiere.

Dann die Stadt mit ihren Bauwerken und Sehenswürdigkeiten, die ich mir geduldig von einem Einheimischen neben mir erklären ließ! Welch Flair!
Schließlich schweifte mein Blick übers Olympiagelände, auf die Alleen und Wege, die das Olympiastadion im Vordergrund mit dem Velodrom im Hintergrund verbinden.
Links unter mir liegt eine lang gestreckte, rechteckige Asphaltbahn, an deren Enden je ein Feld mit weißem Mittelpunkt markiert ist. Dahinter führt, dazu parallel, ein Gehweg zur Bootsanlegestelle am Olympiasee. Mein Blick folgt dem jenseitigen Strandweg nach rechts zu einem kleinen, weißen Haus im Abhang, offenbar ein Technikzentrum oder eine Schaltstelle, davor wieder eine Art Anlegestelle im See mit einem Steg und vier floßartigen Plattformen. Am Gehweg dahinter, der sich dort gabelt, beobachte ich – als Spielzeugfiguren wahrnehmbar – einige (ich nehme an: ältere) Damen (das schließe ich aus ihrer langsamen Fortbewegung), die ihren „Zamperl“ spazieren führen, ohne dass ich von hier oben erkennen kann, um welche Hunderasse es sich handelt. Ich gehe vorschnell davon aus, es seien Dackeln, war doch das offizielle Maskottchen, das die Olympia-Souvenirs 1972 zierte, auch ein Dackel.
„Alt-Münchnerinnen mit ihren Dackeln“, denke ich und mir fällt ein, dass „Dackel“ – abweichend von „Semmel“( die in der Mehrzahl stets ein „n“ aufweist) – genauso wie „Knödel“ gebeugt wird (also nur im Dativ Plural auf „n“ endet), auch wenn Dackeln Semmeln kaum schmecken und sie mehr zu Fleischknödeln neigen, wenn Dackel üblicherweise weder Semmeln noch Knödel fressen, sondern Fleischknödeln vor Semmelbröseln den Vorzug geben, demnach (bundesdeutsche) „Fleischklöße“ vorziehen, um den Fallschwierigkeiten endgültig zu entgehen.
Fast hätte ich von Fleisch-, Haschee- oder Speckknödeln geträumt, da ich ja meinen Hunger zu stillen bislang noch keine Gelegenheit gefunden hatte.

Da fesselt aber schon hundert Meter weiter rechts hinter einem alleinliegenden Wasserfloß eine Gruppe Japaner meine Aufmerksamkeit. Natürlich kann ich ihre unverkennbar asiatischen Gesichtszüge von heroben nicht erkennen, aber weil sie noch kleiner als die übrigen Spaziergänger erscheinen und weil Blitzlichter von Fotoapparaten aufflammen, bin ich der Überzeugung, es handle sich um Angehörige dieser Weltreise-im-Stundentakt-Rasse.

Da! Plötzlich blitzt es in dem Gebüsch am Abhang wiederholt auf. Es wird sich doch kein Japaner in die Büsche geschlagen haben? Es wirkt wie eine das Sonnenlicht reflektierende glatte Fläche.

Das Aufblitzen wiederholt sich in rasender Schnelligkeit. Mein Begleiter reicht mir unaufgefordert sein Fernglas, und ich erkenne, dass da ein Messer auf und nieder saust, dass da auf etwas oder gar jemanden eingestochen wird.

Eine Person bricht aus dem Dickicht hervor, springt auf ein offenbar bereitliegendes Fahrrad, das ich zuvor nicht wahrgenommen habe, und fährt nach rechts davon, an vereinzelten Spaziergängern vorbei, bis sie aus meinem Blickfeld verschwindet.
Ich bin allem Anschein nach Zeuge eines Messerattentates geworden.

Mein Begleiter, dem ich das Fernglas unter Schilderung meiner Wahrnehmungen zurückgebe, und ich, wir beschließen, sofort hinunter zu fahren und zu diesem Gebüsch zu laufen, um das sich bereits die ersten Passanten zu sammeln beginnen.

Dort eingetroffen, dringen wir ins Dickicht vor und stehen – wie schon andere Neugierige – vor der Leiche eines etwa dreiundzwanzigjährigen jungen Mannes, der eine leere Schatulle in Händen hält, die er kurz davor ausgegraben haben muss.

Hat hier ein Räuber seinem Komplizen die Beute abgejagt? Liegt ein Raubmord vor?
Während die Anwesenden noch Vermutungen äußern, trifft die Mordkommission ein, allen voran – mein alter Schulfreund Ferdinand Schaller.

Beide rufen wir fast gleichzeitig überrascht aus: „Ja, was machst denn du da?“. Ich erwähne meinen Olympiaparkbesuch, er verweist auf seinen Einsatz, der ihm nicht erlaubt, sich mir länger zu widmen. Er werde mich morgen um 14 Uhr im Biergarten des Chinesischen Turms treffen.

Der Tatort wird abgesichert, Spuren und Proben werden genommen, alle Umstehenden – auch wir zwei – von mehreren Kriminalbeamten als Zeugen befragt.
Mein Begleiter und ich– beide Laien – erörtern diesen Vorfall noch und gehen dann auf ein Bier in ein nahes Gasthaus.

Tags darauf traf ich – wie vereinbart – meinen Schulfreund Ferdl Schaller, der vor allem wissen wollte, was seit unserer Jugend aus mir geworden war, während mich mehr sein Kriminalfall interessierte.

In der leeren Schatulle hätten sich Reste von Heroin nachweisen lassen. Alles deute auf einen Mord in der Rauschgiftszene hin, was eher selten sei, zumal Dealer und User als von einander Abhängige sich zu solchen Taten kaum hinreißen ließen. Da es sich aber – geht man davon aus, dass die Metallkassette voll war – offenbar um einen erheblichen Heroinvorrat gehandelt haben müsse, könne nicht ausgeschlossen werden, dass eine Auseinandersetzung zwischen Dealern vorlag. Als solcher sei der Tote Engelbert Pfunder schon in der Szene verdächtig gewesen. Wie viele Pfunde mochten ihm abgejagt worden sein?

Das Fahrrad des Täters sei an der Kreuzung der Dachauer- mit der Karlstraße gefunden worden, es sei ein relativ selten verkauftes Modell, das nur drei Münchner Sportwarengeschäfte vertrieben, so dass sich vielleicht in diese Richtung der Käufer eruieren ließe.

Im Japanischen Teehaus trafen wir einander am nächsten Tag um 16 Uhr zur Teezeremonie. Dort teilte mir Ferdl Schaller mit, sie hätten einen Drogenabhängigen verhaftet, der Engelbert Pfunder nach Aussage anderer Zeugen aus der Szene kurz vor der Tat vom Park hinter dem Neuen Rathaus über die Theatinerstraße bis zum Odeonsplatz und in den Hofgarten gefolgt sei. Offenbar habe sich das spätere Opfer beobachtet gefühlt und zur gezielten Ablenkung vom tatsächlichen Versteck seines Heroinvorrats verschiedene Parks angesteuert.

Ob Pfunder dann entlang des Englischen Gartens oder über die Ludwig- und Leopoldstraße ins Olympiagelände gelangt sei, konnte ebenso wenig verifiziert werden wie der weitere Weg des Verdächtigen, den man jetzt erst einmal einige Stunden „dunsten“ lasse und dann wieder und wieder vernehme. Andere Foltermethoden gestatte die neue Strafprozessordnung leider nicht, bedauerte Ferdl.
Also hieß es Tee trinken und abwarten!

Wir trafen einander einen Tag später im Biergarten „Hirschau“ im Englischen Garten wieder. Ferdl wirkte sehr gelöst, so als wüsste er die Lösung des Kriminalfalls schon und wollte mich nur auf die (ihm noch erlaubte) Folter spannen.
Dann überraschte er mich damit, der verdächtige Drogenabhängige sei freigelassen worden, nachdem er alle seine Suchtgiftaktivitäten gestanden habe und kein Haftgrund mehr vorgelegen sei.

Was habe es dann mit der Messerstecherei für eine Bewandtnis gehabt, wollte ich –
allmählich ungeduldig – wissen.

Dazu müsse er mir, meinte Ferdl, die Geschichte der Señora Maria de los Dolores Porris y Montez, besser bekannt unter Lola Montez, erzählen: Sie sei als Tochter einer Kreolin und eines schottischen Offiziers 1818 in Limerick in Irland (nach ihrer eigenen Darstellung in Sevilla) geboren, habe mit 19 einen englischen Leutnant geheiratet und sei nach ihrer Scheidung als schöne, jedoch unbegabte Tänzerin in London aufgetreten, 1846 von Frankreich, nachdem ihr Geliebter in einem Duell getötet worden sei, nach München geflohen, wo sie bei dem damals sechzigjährigen König Ludwig I. eine Privataudienz erreicht habe, der seinen Verdacht geäußert habe, sie hätte ihrem Busen mit Polstern unter dem Kleid nachgeholfen. Daraufhin habe Lola ein Messer gezogen und ihr Kleid zur Freude des Königs aufgeschnitten, ihm das Gegenteil zu beweisen, wonach er ihren Reizen derart erlegen sei, dass er sie gegen jede Staatsräson nicht nur zur Mätresse genommen, sondern sogar zur Gräfin von Landsfeld geadelt habe, was am 20. März 1848 zu Ludwigs Abdankung zugunsten seines Sohnes Maximilian II. beigetragen habe.

Mich interessiere mehr, wer hundertdreiundzwanzigmal das Messer gegen das Opfer geführt habe!

Erst jetzt bekannte Ferdinand Schaller Farbe:
Der Täter habe sich heute Mittag gestellt. Er habe die Tat aus Verzweiflung und Zorn darüber begangen, dass es ihm trotz jahrelanger Bemühungen nicht gelungen war, seinen missratenen Sohn von der Drogenszene weg und zu einer rechtschaffenen Arbeit zu bringe: ein in seinem Lebensplan endgültig gescheiterter Vater.
Im Bewusstsein, entfernter Zeuge dieser „Hinrichtung“ gewesen zu sein, entfernte ich mich diesmal aus meinem München, einer dieser großen Städte, in die ich von Zeit zu Zeit gern zu Besuch komme.