„Ich habe ein gewagtes Spiel gespielt.“

(Schiller. Maria Stuart,IV,6, Leicester)

DAS SPIEL IST AUS

 

Das Jahr fängt ja gut an, dachte ich mir, als ich am 1.Jänner 2012 in der Zeitung die Überschrift las: „Räuber stellt sich nach Wettbüro-Überfall“.

Ein Türke (27) sei spielsüchtig und habe zwei Kinder, hieß es im Untertitel; als ob das eine mit dem anderen etwas zu tun hätte!

Ein spielsüchtiger Türke aus P. habe am Nationalfeiertag 2011 aus Verzweiflung ein Wettbüro in L. überfallen und sich nun, um nicht noch weitere Überfälle zu begehen, selbst gestellt.

Die Polizisten des Postens L. hätten nicht schlecht gestaunt, als der arbeitslose Türke Gökhan G. aus P. bei ihnen mit dem Geständnis aufwartete, er habe am 26. Oktober 2011 kurz vor Mitternacht das Wettbüro in L. überfallen, die Angestellte Manuela M. aus S. mit gezücktem Messer zur Herausgabe von 8.500 € genötigt und danach ins WC eingesperrt, aus dem sich die Verängstigte erst nach einer halben Stunde herausgewagt habe. Gökhan G. sei verheiratet, Vater zweier Kinder (drei und sieben) und spielsüchtig. Mit der Beute aus dem Wettbüro habe er Wettschulden bezahlt. (Gar nicht so weit hergeholt, dachte ich.)

Nun sei ihm – finanziell gesehen – das Wasser wieder bis zum Hals gestanden. Um kein weiteres Verbrechen zu begehen, habe er sich gestellt. Der Polizist, der ihn in Untersuchungshaft überstellte, habe ihm „große Charakterstärke“ attestiert.

Dazu fiel mir das Sprichwort ein: „Das Spiel zeigt den Charakter.“

Obwohl der Täter beim Überfall von der Überwachungskamera gefilmt worden war und er noch dazu aus einem Nachbarort stammt, war er nicht erkannt worden.

Und mir kam ein Gedicht Grillparzers, das ich einst auswendig gelernt hatte, in den Sinn, aus den „Jugenderinnerungen im Grünen“:

„Und also sitz‘ ich an derselben Stätte,

Wo schon der Knabe träumte, saß und sann.

Wenn ich erst das Verlorne wieder hätte,

Wie gäb ich gern, was ich seither gewann!“

 

Was muss das für ein verteufeltes Gefühl sein, bei einem Spiel um Geld nicht aufhören zu können, trotz steigender Verluste zu glauben, weiterspielen zu müssen, sich der trügerischen Hoffnung hinzugeben, man werde nicht nur das Verlorene zurück-, sondern einen gewaltigen Gewinn herausbekommen!

Eine an Verzweiflung grenzende Lust! Eine Versuchung des Schicksals, die nach Belohnung lechzt, aber Strafe fürchten muss! Eine Krankheit, deren Nichtheilung noch teurer zu stehen kommt als ihre Behandlung!

„Nur ein verzweifelter Spieler setzt alles auf einen einzigen Wurf.“, meint Schiller in „Kabale und Liebe“ (V, 5, Ferdinand), ohne zu bedenken, dass der spielsüchtige Spieler weniger der Verzweiflung als dem Kitzel, der Risikobereitschaft und dem Gefallen an der Gefahr erliegt. Ihn reizt, etwas in Aussicht gestellt, aber doch nicht gleich zu bekommen. Er möchte doch sehen, ob er das Glück nicht (er)zwingen kann.

 

Dabei fällt mir eine Strafsache ein, die ich als vor 30 Jahren als Schöffenvorsitzender zu verhandeln hatte:

Josef K., ein 23-jähriger Angeklagter, hatte nach der Pflicht- und der Berufsschule als Marktleiterstellvertreter im Werkzeugmarkt B. in L. eine Anstellung gefunden, wobei ihm Aufgaben des Verkaufs, Computereingaben, die Aufnahme von Bestellungen und die Überbringung der Tageslosung in Geldbomben zum Nachttresor der nächsten Bankfiliale zustanden. Der Inhalt der Geldbombe wurde jeweils auf einem Erlagschein, von Josef K. ausgestellt, gestempelt und unterfertigt, festgehalten, der in dreifacher Ausfertigung vorlag, einmal für die Firma, einmal als Begleitpapier in der Geldbombe und ein weiteres Mal für die Bank in einem eigenen Kuvert, das dort einzuwerfen war.

Josef K. hatte erstmals vier Jahre vor seiner Straffälligkeit zweimal das Kasino in B. b. W., danach viermal das in S. aufgesucht und um unbedeutende Beträge gespielt. Mit der Eröffnung des Kasinos in L. nahmen seine Besuche und seine Einsätze zu. Anfangs setzte er einen Kredit über 100.000 Schilling (das sind rund 7.000 €), den er für Wohnungseinrichtung erhalten hatte, (im wahrsten Sinn des Wortes) nach und nach „aufs Spiel“. Auch ein Sparbuch über 17.000 Schilling (1.200 €) räumte er für seine Leidenschaft ab.

Da seine Kasinobesuche ebenso zunahmen wie seine Spielverluste, verschaffte er sich einen weiteren Kredit von 50.000 Schilling (jetzt 3.500 €), die er gleichfalls in den Sand setzte, nämlich beim Roulette.

Danach hatte sich seine Spielleidenschaft soweit gesteigert, dass er nicht nur hoffte, seine Kredite durch höhere Spielgewinne abdecken zu können, sondern vor allem durch höhere Einsätze größeren Gewinn zu erzielen. Das dazu nötige Spielkapital wollte er sich von seiner Firma „ausborgen“, indem er die ihm anvertrauten Geldbomben leerte. Deshalb nahm er auch die Nachttresor-Erlagscheine daraus und die Duplikate aus den für die Bank bestimmten Kuverts an sich; diese und die in den Geldbomben enthaltenen Schecks versteckte er im Betrieb unter einem Förderband.

Auf diese Weise eignete sich Josef K. innerhalb von zwei Monaten in neun Angriffen 872.000 Schilling (d. s. 63.650 €) an, die er in derselben Zeit im Kasino verspielte, indem er anfängliche Einsätze von 200 bis 1.000 Schilling (14 bis 70 €) auf 2.000 bis 5.000 Schilling (140 bis 350 €) steigerte.

Mittlerweile verlangte ihm die Spielbank einen Einkommensnachweis ab und verhängte über ihn ein Spielverbot.

Mit der Aufbuchung des Kassageldes ein Monat danach wurden Josef K.s Malversationen ruchbar. Er gab die versteckten Begleitpapiere heraus und wurde auf der Stelle entlassen.

Da er sich bereit erklärte, monatlich 3.000 Schilling (210,-- €) auf den Schaden zurückzuzahlen, wurde er bei dieser Firma erneut, aber bloß als Lagerarbeiter, eingestellt.

Und nun bat der Angeklagte mit dem Versprechen, nie wieder zu spielen und seinem Arbeitgeber den Schaden sukzessive zu ersetzen, um ein mildes Urteil und mit weinerlicher Stimme vor allem darum, über ihn keine Freiheitsstrafe zu verhängen, die ihn seinen Arbeitsplatz kosten würde.

Um verlorenes Geld und Gut werden die aufrichtigsten Tränen geweint (wusste schon Juvenal in seinen Satiren, 13, 134).

Der Schöffensenat hatte den Angeklagten wegen des Verbrechens des schweren Diebstahls an seinem Arbeitgeber und der dauernden Sachentziehung sowie wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung verurteilt, wobei von einer Strafdrohung von einem Jahr bis zu zehn Jahren auszugehen war.

Die Schuldeinsicht, die Reue und die schon begonnene Wiedergutmachung des bisher Unbescholtenen waren mildern zu wägen.

Schopenhauers Satz (aus : Parerga und Paralip,1,5 :Paränesen und Maximen, A: Allgemeines):

„Meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge.“

hatte sich für Josef K. endlich bewahrheitet.

 

Bei der Beratung über das Strafausmaß war – so erinnere ich mich noch lebhaft – der aus je zwei Berufs- und Laienrichtern bestehende Schöffensenat erstmals aufgerufen, sich über das Phänomen der Spielleidenschaft klar zu werden, das – wie auch die Drogensucht oft – zur Folgekriminalität führt. Für uns damit nicht Infizierte war gar nicht so leicht nachvollziehbar, wie man dem Spielteufel derart verfallen und damit seine ganze Existenz auf Spiel setzen konnte.

Genauso wenig wie wir den Virus kannten, der zu solcher Ansteckung geführt haben mag, wussten wir über die Heilmittel dagegen Bescheid.

Ja, ein Schöffe hatte in seiner Familie einen Alkoholabhängigen gehabt, worunter diese wie jener genauso gelitten hatten. Erst nach wiederholter Entziehungskur war der Alkoholiker nicht mehr rückfällig und – wie man so schön sagt – „trocken“ geworden.

Der andere Schöffe erzählte, dass der Sohn eines Bekannten dem Suchtgift verfallen sei, wenn auch – angeblich – nur den „weichen Drogen“. Aber man wüsste kein Mittel, um ihn von Haschisch und Marihuana loszubekommen. Noch arbeite er und sein Langzeitgedächtnis habe nicht allzu sehr abgebaut, jedoch werde sein Geldbedarf für die Beschaffung immer dringender.

Wie gelänge es daher einer Krankheit – denn das ist die Spielsucht offensichtlich – zu steuern, deren Symptome zwar klar erkennbar seien, von der man aber nicht wüsste, wie man sie unter Kontrolle bringen könnte?

Der Angeklagte war uns zwar mit seiner einsetzenden Wiedergutmachung und seinem Besserungswillen entgegengekommen, aber wie konnten wir sicher sein, dass er nicht wieder rückfällig und sich die dazu nötigen Geldmittel anderweitig unredlich verschaffen würde.

Darüber hinaus blieb für uns die Frage ungeklärt, durch welche Verlockungen oder gar Anlagen sich jemand sosehr in unkontrolliertes Spielen verlieren kann, wie uns auch die Lösung dieses Suchtverhaltens fremd war.

Jedenfalls kamen wir zu dem Schluss, dass neben der eigenen Willensanstrengung auch eine besondere Psychotherapie nötig wäre. Ist nicht eine der Ursachen für dieses schrankenlose Spielen und unbedingte Gewinnenwollen ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl, das sich an – wenn auch seltenen – Gewinnen aufzurichten verspricht? Die danach eingefahrenen Verluste allerdings betonen die Minderwertigkeit erneut. Schließlich tritt – sobald auf fremde Geldquellen gegriffen wird – neben den Zwang, das Geliehene zurückgewinnen, die Angst, weitere Niederlagen zu erleben. Wie kann einem Verurteilten, durch die Strafsanktion zusätzlich verunsichert, diese Beklemmung, diese Seelenbeeinträchtigung genommen oder zumindest gemindert werden?

 

Der Schöffensenat fand ein Fünftel der Höchststrafe, sonach 2 Jahre Freiheitsstrafe für angemessen, die – angesichts der überwiegenden Milderungsgründe – auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Sozusagen als flankierende Maßnahmen, die sicherstellen sollten, dass Josef K. nicht rückfällig würde und erneut seiner Spielsucht erläge, wurden ihm die Weisungen erteilt, sich psychotherapeutischer Behandlung zu unterziehen, Kasinos und jeglichen Umgang mit Spielern zu meiden und weiter monatlich mindestens 3000 Schilling (210 €), was etwa einem Viertel seines Monatslohns entsprach, neben den ihn belastenden Kreditrückzahlungen auf den Schaden gutzumachen.

Wie wir uns davor errechnet hatten, würden in der dreijährigen Probezeit, während der die bedingte Strafe wegen schuldhafter Nichtbefolgung der Weisungen widerrufen werden könnte, gerade 108.000 Schilling (7.560 €), also etwa ein Zehntel des Gesamtschadens (rechnete man die Schecks mit ein), zurückbezahlt sein oder anders gesehen: Bei gleichbleibender Rückzahlung würde Josef K. dreißig (!) Jahre seines Lebens benötigen, um das Geld, das seine nur ein paar Monate dauernde Spielleidenschaft aufgezehrt hatte, zu ersetzen.

 

Gelänge es, dies anderen durch Spielsucht Gefährdeten begreiflich zu machen, wäre vielleicht ihr Spiel aus, ehe es ganz aus wäre.