06.05.06

HALB ZOG SIE IHN; HALB SANK ER

Jahr um Jahr zog ins Land, aber er, der verzogene Sohn, zog daraus, dass sich bei ihm alles in die Länge zog, keine Lehre. Freilich, wenn er zügig den Vergleich zog zwischen seinen Freunden, die vom Land in die Stadt gezogen waren, zwar auch nicht gerade das große Los gezogen hatten, es jedoch vorgezogen hatten, einer vorzüglichen Beschäftigung nachzugehen – einer zog Pflanzen und Blumen, ein anderer zog als Straßenarbeiter Gräben, ein dritter zog metallverarbeitend Drähte, ein vierter zog Bilder auf Pappe, ein fünfter zog Kerzen, die er durch Ziehen von Wachs mit der Hand herstellte. Konrad war hauptberuflicher Imker, zog Bienen, die Honig gaben, der wiederum beim Schöpfen Fäden zog, Karl war ein stadtbekannter Alkoholiker, zog einmal Wein auf Flaschen, zog dann wieder den Korken aus der Flasche, was, wenn er daran länger zog, üble Folgen nach sich zog, Franz war Spieler und zog immer überraschend eine stechende Karte aus dem Talon, Pepi war aggressiv, zog bei der kleinsten Kleinigkeit das Messer und (hätte er einen gehabt) den Revolver aus der Tasche und hat nur, weil immer ein Besonnenerer als Pepi die Notbremse zog, noch niemanden umgebracht, aber alle hatten sie es zu etwas gebracht!

Wenn er also den Vergleich zwischen den Weggezogenen und sich, dem verzogenen Nichtweggezogenen, dem sonach verzogenen Nichtverzogenen zog, zog er den Kürzeren: Er, der Unverzogene, zog noch manchmal das Pferd, das den Pflug zog, wenn sie mitsammen Furchen in den Ackerboden zogen, um Samen zu säen und zu sehen, ob sie an- und aufgehen; dann zog er daraus den Schluss, Schluss müsste sein, dass er vor den ausgezogenen Freunden, die ihn immer so angezogen hatten, weiter den Hut zog, er müsste daraus, dass er jene Tätigkeiten, die die anderen tatkräftig taten, und die seine Aufmerksamkeit vorübergehend auf sich gezogen hatten, selber keineswegs in Betracht zog, die Folgerung ziehen, dass er in der Folge folgerichtig etwas Richtiges machen müsse, wollte er nicht in Untätigkeit, in Müßiggang, ins Elend gezogen werden. Die Ausrede, dass es ihm im Kreuz zog, dass er also einen ziehenden Schmerz im Kreuz verspürte, zog nicht mehr!

Er zog es für sich ins Lächerliche: Auch die Tatsache, dass es ihn an sich in die weite Welt zog, er aber nicht durch die Welt zog oder nicht auch nur in die Fremde zog, den Zugvögeln nachzog, wenn sie in Scharen nach dem Süden zogen, dass er nicht nach Wien, Berlin, Kopenhagen und – wie die Hauptstadt Schwedens hieß – zog, dass er nicht zu einem seiner Freunde zog, mit dem zusammenzog, seinen Wohnsitz verlegte und verzog, dass er lieber durch den Wald zog, so wie der Hirsch über die Lichtung zog, auch diese Tatsache veranlasste ihn nicht, dass er einen der wenigen nicht weggezogenen Freunde ins Gespräch zog oder gar – wo er doch schon sosehr den Unwillen des Vaters auf sich gezogen, den Zweifel der Mutter auf sich gezogen und die bösen Blicke der Nachbarn auf sich gezogen hatte – eiWellennen Seelendoktor zu Rate zog. Er gehörte ja nicht einmal einer wohlerzogenen, gehörigen Freundin an, geschweige denn, dass er ihr hörig wäre, die – wenn schon ihn nicht erhört – ihm zugehört hätte, falls er sich trauen sollte, dass er sie ins Vertrauen zog.

Bei diesem traurigen Gedanken zog Melancholie durch seine Seele.
Worauf hätte seine Zukunft noch einen Wechsel ziehen können, wenn er selbst nicht in Betracht zog, einen eigenen Wechsel in der Gegenwart vorzuziehen, die Zeit nicht ungenützt vorbeiziehen zu lassen, aus seinem bisherigen Scheitern Nutzen zu ziehen und gescheiter zu werden. Das Dasein war für ihn so eng geworden, dass er nun den Gürtel enger ziehen müsste, dass er den Faden durchs Nadelöhr ziehen müsste, wollte er den roten Faden nicht ganz aus den Augen verlieren. Wenn er schon nicht als Koch einen Strudel (in die Länge) ziehen, als Juwelier Perlen auf Schnüre ziehen, als Weber goldenes Garn ziehen, als Geigenbauer Saiten auf ein Instrument ziehen, als Innenarchitekt gelungene Gardinen vors Fenster ziehen, als Designer schicke Jacken über modische Kleider ziehen, als Chirurg die Fäden nach der Operation ziehen, als Rassentierzüchter dressierte Hunde groß- und an der Leine ziehen, als Mundschenk, ohne den Mund zu verziehen, an den Hof eines Königs ziehen, als Playboy eine teuere Yacht oder einen geilen Hasen an Land ziehen, im Bankenwesen gewinnbringende Wechsel ziehen oder in der Geschäftswelt überhaupt die Fäden ziehen könnte, sollte er sich seines verzogenen Lebens wegen endlich zur Rechenschaft ziehen und nicht weiter jede Verantwortung fliehen.

Diese Gedanken zogen durch seine schlaflosen Träume, als im zögerlichen Morgendämmern der Tag heraufzog.
Um hellwach zu werden, zog er sich an den Ohren. Um nicht ständig auf andere ungehörige, unanständige Gedanken zu verfallen, zog er sich am Schwanz aus dem Bett, zog er vors Waschbecken, zog er vor dem Spiegel ein verzerrt lächelndes Gesicht, zog er das Wasser durch die Zähne, zog er sich den Scheitel adrett. Dann, nachdem der Tee fünf Minuten gezogen hatte, goss er sich eine Tasse davon ein und zog mit dem Messer Butter aufs Brot.
Nach dem Frühstück zog er sich bequem an. Er zog sich eine Weste über das Hemd. Die Strümpfe, die Wasser zogen, zog er sich an, die zog er sich glatt.

Nun zog er die Uhr aus der Tasche – er hatte nämlich eine Taschenuhr! – zog sie sicherheitshalber auf und zog, als er sah, dass es mittlerweile zehn Uhr geworden war, was er anfangs in Zweifel zog, daher einen Vergleich mit der Pendeluhr in der Stube zog, eine seine Unzufriedenheit verratende Grimasse: So spät schon – und noch nichts für die Unsterblichkeit getan!
Das wollte er nun: Er zog sich an seinen verwaisten Schreibtisch zurück, zog einen Bleistift und damit auf einem Papier eine Linie.
Darüber schrieb er zögernd:
„Der Morgen des guten Textes“.
Wie durch einen Zauber – ohne dass es eines Stabes bedurft hätte! – war damit die Nacht der schlechten Texte vorbei.
Da sich der zweite Satz zog und zog, so richtig hinzog, zündete er sich eine Pfeife an und zog daran.
Er betrachtete die Wolken, die über den Himmel zogen.
„Euch allen, die ihr mich ewig aufgezogen habt, euch werd’ ich es zeigen!“ sagte er zu sich und begann zu schreiben, obwohl er eigentlich nicht recht wusste, was er zu sagen hätte. Er sagte sich, das wolle schon etwas sagen, wenn er sich hinsetze, etwas zu schreiben. Das sei leichter gesagt als getan!
Er möchte einen, sagen wir, guten Text, der etwas aussagt, schreiben. Sein Gefühl sagt ihm, dass er das versuchen solle – da soll noch einer sagen, dass er sich nicht bemüht! –, sein Verstand jedoch sagt vorerst gar nichts, versagt eher! Sollte er sich’s denn doch versagen, seine Meinung zu sagen, sich abzuringen, zu Papier zu bringen? Das muss doch etwas zu sagen haben, wenn ihn plötzlich das Bedürfnis überkommt, etwas sagen, etwas ausdrücken, etwas niederschreiben zu wollen, sich nicht zu drücken, seine Eindrücke wiederzugeben. Dagegen ist noch nichts zu sagen! Damit ist ja noch nicht gesagt, dass er mit wenig Worten viel sagen wird können.
„Ich kann euch nur sagen, wartet ab, was ich zu sagen habe!“ sagt er bei sich. Wer kann schon dasselbe von sich sagen? Dass er nämlich – was man auch sagen mag – immerhin versucht, sich – wenn ich so sagen darf – zu verwirklichen. Es gehört immerhin eine Portion gehörigen Mutes dazu, sich – wie gesagt – anzustrengen, auf alles etwas zu sagen zu haben, also um keine Antwort verlegen zu sein, wenn einem nicht einmal die Fragen dazu etwas sagen.
„Ich habe mir sagen lassen“, sagte er sich weiter, „man dürfe sich sein Teil denken, aber sagen, sagen darfst du es nicht. Das will ich mir nicht sagen lassen! Ich möchte nicht sagen, dass nicht auch einer, der nichts zu sagen hat, doch etwas sagen kann. Das muss man schon sagen, dass von mir sicher niemand eine Aussage, um nicht zu sagen, überhaupt eine Aktivität erwartet hat. Was werden die erst sagen, wenn sie lesen, was ich über sie zu sagen habe? Wer kann schon sagen, welch Talente, welch verbo(r)gene, in einem stecken? Ich müsste lügen, wenn ich anders sagte, und nicht auch ich zu – wie soll ich sagen – etwas Sagenhaftem befähigt wäre. Offen gesagt, mich interessieren die, die mir Komplimente oder Schmeicheleien sagen, ohnehin nicht. Ich weiß, das sagt man nicht. Aber man wird doch die Wahrheit sagen dürfen, ohne jemandem gleich Bosheiten, Grobheiten, Sticheleien und Schimpfwörter sagen zu müssen! Die sollten einem Dank sagen, anstatt etwas dagegen zu sagen, wenn man sich mit ihnen – ich möchte fast sagen – überhaupt beschäftigt und befasst. Darüber, dass sie es gar nicht verdienen, wäre viel zu sagen, aber ich habe ja gleich gesagt, dass ich mit meinem Versuch, einen guten Text zu verfassen, nicht gesagt haben will, jeder muss ihn erfassen können. Wenn er nicht mitzudenken bereit ist, dann will ich nichts gesagt haben! Ich kann dasselbe von mir sagen: Nur wenn einer sagt, er könne es, sagt das noch gar nichts. Nur gesagt – getan, gilt!“
Und damit schickt er sich an zu schreiben. Er schreibt kein Konzept, er schreibt sozusagen gleich ins Reine. Er schreibt nicht, wie er einst in der Schule einen Aufsatz schrieb. Er schreibt nicht an einem Brief an eine Frau, die ihm, der er etwas zu sagen, zu schreiben hätte. Er schreibt mit der Hand, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass er schreibt, auch wenn er nicht weise schreibt, er weiß doch, was er schreibt. Schriebe er sonst? Und was schriebe er, wenn er nicht gerade das schriebe? Er schreibt:
„Woran erkennt man, einer, jemand oder wer auch immer, ob einer, jemand oder wer auch immer einen guten Stil schreibt. Woran zweifelt keiner, niemand, nicht ein einziger, dass etwas ein schlechter Text ist, wenn einer über eine Sache nicht gut schreiben kann?
Warum bemühen sich oder auch gegenseitig Schreiberlinge, besser zu schreiben, als andere Dinglinge schlecht schreiben? Was ist hier Sache? Das ich nicht lache! Die meisten – mich eingeschlossen – wissen ohnehin nichts zu sagen, aber sie können sich nicht eingestehen, einen schlechteren Stil zu schreiben, als sie schrieben, wenn sie nicht schrieben. Ach, wären sie doch schreiblos geblieben! Man könnte glauben, sie hätte beim Schreiben was los!
So aber decken sie bloß – auf, dass sie nicht schreiben können, nichts zu sagen haben, aber aufdecken wollen. Sie sollten sich nicht hinter ihrem ungelenken Stil verstecken, sondern sich in Schweigen hüllen, in ganze Bahnen und Haufen von Schweigen, in Schweigen betten; damit würden sie zeigen, dass sie nicht den schlechtesten Stil hätten.“
Diesen Schluss zog der, den ’s zum Schreiben zog, und – sagen wir – er log nicht, als er schrieb:
„Der beste schlechte Text ist der, der ungeschrieben blieb!“

Heinz –Helmut Hadwiger, Richter in Ruh’, Poet dazu, Haid 1,
4272 Weitersfelden, 07952/6243 und 0664/4307861, Email: haha8@aon.at