WEIHNACHTEN IST MIR NICHT GANZ „WURSCHT“,

ABER BRATWÜRSTEL …

Was treibt dich
so zeitig
nach Leipzig?

Unstreitig:
Das schreibt sich
leicht, sich.

Die Frage, die leit’ mich,
und sie zerreibt mich:
Bin ich schon bereit, ich,
zu segnen das Zeitlich’?

Manch Zweifel macht breit sich,
und darunter leid ich.

Sei ’s, man vertreibt sich
die Angst oder weid’ sich
daran, man entleibt sich.

Keiner beneid’ mich
oder vergleich’ sich!

Letztlich bleibt ’s sich
einerlei, doch leidlich
unvermeidlich!
Damit bescheid’ dich!

Der Donau-Spree-Kurier sei um 5,14 Uhr in Leipzig eingetroffen, um 15 Minuten zu früh. Damit weckte mich der Liegewagenschaffner, stellte das Frühstückstablett auf mein Bett und beruhigte vergeblich, es bestehe kein Grund, sich zu sputen. Der Zug halte 43 Minuten.
Schon hatte meine Eile den Kaffeebecher umgestoßen und meine Hose durchnässt.
Was treibt dich
so zeitig
nach Leipzig?

Ich sollte an diesem Abend in Wiedemar zum 70. Geburtstag eines Freundes lesen, eines um rund drei Jahre älteren. Ich müsste mir erst seine Eigenheiten berichten lassen, um den Text an Ort und Stelle auf die Schnelle zu verfassen.
Unstreitig:
Das schreibt sich
leicht, sich.

Jetzt aber lag ich im Notarztwagen, der mit Blaulicht und Tatü-Tata das Klinikum St. Georg in Leipzig ansteuerte. Erschöpft, kraftlos, allen Widerstands beraubt; unten den Kabeln und Schläuchen des EKG und des Sauerstoffgerätes, mit geschlossenen Augen. Die Ärztin hielt meine viel zu kühlen Hände, ließ sich meine Anamnese und die Symptome schildern, drang in mich, ob sie schon etwas abgeklungen wären: Ringförmiger Thoraxschmerz, nach hinten in die Wirbelsäule und unter die linke Achsel ausstrahlend, wie wenn man einen breiten Gürtel um meinen Oberkörper immer enger schnallte – bis mir die Luft wegbliebe, der Atem ausginge …
Die Frage, die leit’ mich,
und sie zerreibt mich:
Bin ich schon bereit, ich,
zu segnen das Zeitlich’?

Am Morgen und am Vormittag war ich noch fünf Stunden lang neugierig durch Leipzig gelaufen, von der Nikolai- zur Thomaskirche, war dort ehrfürchtig vor der Bronzeplatte im Altarraum gestanden, die Johann Sebastian Bachs Gebeine abdeckt, hatte das barocke Taufbecken bewundert, dessen Deckel als verloren gilt, hatte für meine Verstorbenen eine Kerze angezündet, Gedanken um Unsterblichkeit und Vergänglichkeit, um Geburt und Tod kreisen lassen, Martin Luther in einem Glasfenster erkannt.
Das Gewandhaus gegenüber der schlichten Oper am Festplatz mit seinen fünf oder sechs Stahlobjekten, die wie moderne Pissoirs aussehen, aber keine sind, nimmt sich eher bescheiden aus (nicht eindrucksvoller als das Brucknerhaus in Linz), neben dem himmelstürmenden MdR-Gebäude, wohinter ich die Universität erst suchen musste. Das Neue Rathaus, eine stilisieret Burg aus der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, enttäuscht. Dahinter verärgert eine Bank mit kitschig vergoldeten Halbreliefs. Erst das Alte Rathaus am Marktplatz versöhnt wieder; mit seinen rundum laufenden Bibelzitaten in Goldlettern.
Zurück zum Hauptbahnhof, dem größten Kopfbahnhof Europas, ins Mc Clean, das bei meiner Ankunft noch geschlossen war (hier darf man nur zwischen 6 und 24 Uhr „müssen“: „Pissoir 0,60 €, Toiletten 1,10 €“). Nicht einmal Mc Donald, wo ich um 5,35 Uhr den zweiten Kaffee (nach Verschütten des ersten um 5,15 Uhr) getrunken hatte, verfügt über ein eigenes Gäste-WC.!
Von Mc Donald zu Mc Paper, nicht des Klosett-, nur des Geschenkpapiers willen, des Freundes wegen. Blumen für seine Gefährtin besorgen (noch gibt ’s kein Mc Flower!).
Nach viermaligem Anlaufen der Informationsstelle, die auch nicht vor 6 Uhr öffnet, endlich den Ausdruck für eine S-Bahn-Fahrt vom Hauptbahnhof Leipzig nach Leipzig Wahren (Abfahrt 11,35 Uhr) bekommen, eine Bockwurst um 1,20 €, dann eine Thüringer Rostbratwurst für 2 € (günstiger als bei uns daheim) gegessen. Vor den Gepäckschließfächern in allen Taschen nach dem Ticket gekramt. Hilfsbereite raten mir, als Code die deutlich angebrachte Schließfachnummer einzugeben. Welch’ Blamage! Damit könnte ich ja auch an alles andere Gepäck heran: Bagage!
Mit Gepäck die S-Bahn im unbesetzten Bahnhof Leipzig- Wahren (mitten in der Pampa) verlassen, von dort seien es fünf Gehminuten bis zum Bahnhof Wahren, Leipzig.
Diese „Wahren“ waren verwirrend, noch dazu keine Beschilderung, keine Wegbeschreibung im Deutsche-Bundesbahn-Ausdruck: Ausdruck fehlender Praxisnähe!
30 Minuten umhergeirrt, nirgends Befragbare, vor dem Rathaus in Wahren gelandet, eine Station zurück: Der letzte am Wochenende bis Wiedemar durchgehende Bus 190 – den ich schon ab dem Hauptbahnhof Leipzig hätte nehmen können, hätte mir die DBB-Infostelle dies ausgedrückt, wenn schon nicht ausgedruckt – ist längst abgefahren. Ein Taxi bringt mich gegen 13,30 Uhr ins Hotel: um 32 €. 35 € hätte es ab Hauptbahnhof Leipzig gekostet, wofür ich aus Ersparnisgründen, sprich: Ökonomie, das 2 €-S-Bahn-Billett vorgezogen hatte: Sie sparen 1 € und verschwenden zwei Stunden!
Im Taxi erste pectanginöse Beschwerden, die ich auf die Hitze zurückführe. Ob der Taxidriver sommers die Rückbank heizt?
Im Hotel eingetroffen, einem Premiere-Hotel am A der Welt, zwischen A 9 und A 14, geht ’s mir besser. Schiebe die Informationsaufnahme für den Abendvortrag vor mir her, als wüsste ich schon, dass es dazu nicht mehr kommen wird.
Gegen 16 Uhr setzen die Schmerzen wieder ein, stärker als bisher. Ich nehme ein zweites Herzass. Mir wird übel und schwindlig. Ich setze mich, ich lege mich flach.
Nichts hilft.
Im Februar vorigen Jahres hatte ich einen Vorderwand-Infarkt, der erst drei Monate später entdeckt und weitere zwei Monate danach durch zwei Stents behoben wurde.
Meine Nitroglyzerin-Kapseln für den Notfall habe ich zuhause vergessen. Ich bitte den Hotelportier, mir welche aus der nahen Stadt holen zu lassen.
Mein Zustand verschlimmert sich zusehends.
Manch Zweifel macht breit sich,
und darunter leid ich.

Mir geht es hundsmiserabel. Den Gedanken, heute Abend hier zu lesen, habe ich bereits aufgegeben; auch die Vollendung des Textes über Osteoporose (verglichen mit einem Herzinfarkt, eine harmlose, wenngleich langwierige Krankheit), den ich am kommenden Samstag in einer Ärzteordination in Gmunden vortragen soll und den ich an Rilkes Grabspruch (ich sehe mich wieder auf seiner letzten Ruhestätte in Sion sitzen – oder mich schon in meiner liegen?)
„Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.“
auf- und anhing, von mir bis zum Knochenschwund verbogen:

Rose, oh Rose!
O steh!
O steh, o Rose!
O steh, o porose,
poröse Rose!
O steh, o po, o Rose!
O steh, o porose Rose

Auch eine Woche später, beim nun schon traditionellen Bratwürstelessen am Samstag vor dem Heiligen Abend bei Brigitte und Gery Hofer in Pregarten wird man vergeblich auf mich und meine Weihnachtsgeschichte warten, ich werde sie nicht mehr schreiben können, diese Termine nicht mehr erleben: so fühlt es sich an, denn mich fühl ich kaum noch. Panik macht sich in mir breit.
Meinem Freund gegenüber bedaure ich, auszufallen, statt ihm zu Gefallen zu sein, damit meine Laudatio ihm gefalle.
Das möge nicht mein Problem sein. Sie hätten noch andere „Programmpunkte“: Noch nicht tot und schon ersetzbar!
Mein Freund, der vor vier Jahren selbst drei Bypässe bekam (aber sein Nitrolingual auch nicht dabei hat), ruft den Notarzt.
Obwohl sich mein Blick (sozusagen zusehends!) eintrübt, starre ich wie gebannt auf die Allee, die zum Hotel führt, ob die Rettung schon naht.
Wird sie rechtzeitig eintreffen?
Ich wanke ins Badezimmer. Es reckt mich, jedoch brechen kann ich nicht.
Mithilfe meines Freundes erreiche ich ein Fauteuil, in das ich – wie gebrochen (ohne gebrochen zu haben) – sinke.
Schweißausbruch, Panikattacke, die Gewissheit, mit dem Leben abzuschließen, in Erwartung des Tunnelblicks, letzte aufblitzende Gedanken zu unerledigten Projekten, zu fehlendem Abschied von der Familie und von besonderen Freunden.
Nichts für die Unsterblichkeit getan!
Keine Todesangst. Wer einen Herzinfarkt überlebt hat, muss täglich mit seinem jähen Ende rechnen, hat sein Testament gemacht.

Die Mutter starb mit 59 an plötzlichem Herztod am Weg ins Konzert, sechs Wochen danach binnen 24 Stunden die Frau mit 36. Mitten im Leben sind wir …
Sei ’s, man vertreibt sich
die Angst oder weid’ sich
daran, man entleibt sich.
Das heraneilende Ende, dessen Ende ich nicht erwarten will, lässt sich nicht weiter beschleunigen …
Da trifft das Notarzt-Team ein. Vielleicht bin ich noch zu retten.
Gezielte Handgriffe: Spray auf die Zunge, Anlegen eines Zugangs in der linken Armbeuge, Blutabnahme, Anschluss von Sauerstoff und EKG, Spritzen, Infusion (statt Konfusion).
In den Tragsessel (ich denke: Sänfte); vorbei an den fassungslos-neugierigen Hotelgästen (ich denke: Maulaffen), in den Aufzug – zu fünft (ich denke: Höllenfahrt).
Über die Hebebühne in den Notarztwagen: NAW (ich stelle mich auf die Raumschiff-Raketenabschussrampe ein). Auf der Fahrt nach Leipzig ins Klinikum St. Georg (ich sehe Drachen).
Als die Schmerzen nicht nachlassen, verpasst mir die Notärztin eine Morphininjektion, subkutan, in die Bauchdecke: allergische Reaktion!
Ich hätte lieber die Schmerzen weiter gespürt, um zu wissen, wo sie sitzen, kann aber dadurch über meinen eher hilf- als schamlosen Witz wieder lachen, ich sei für den Charme und die „ästhetische Erscheinung“ der jungen, hübschen Notärztin (meine versöhnliche, persönliche Meinung!) hinlänglich empfänglich.
Aha, er lebt bereits wieder!
Übergabe an das Aufnahme-Ärzteteam im Klinikum: Aufnahmebericht.
Ich schon teilweise aufnahmefähig.
Erklärung des Vorgefallenen: Vorfallenheitsbericht.
Ich nicht mehr ganz so verfallen. Die erste Todeshürde scheint übersprungen.
Die Ärztin (Frauen ziehe ich ohnehin vor!) befragt mich, erläutert mir, was „sie“ mit mir vorhaben: Vorhabensbericht.
Blutdruckkontrolle (oberer von über 190 auf 160 gefallen: Gefallenheitsbericht!), neue Blutabnahme, Abwarten der Auswertung durch das Labor. Man lässt mich liegen, überlässt mich mir (Verlassenschaftsbericht? – Noch nicht!).
Mir fällt ein, dass wir von den Knorpelfischen abstammen, die vor 300 (oder 400?) Millionen Jahren aus dem Meer ans Land kamen. Was zählen da die Weltberühmtheiten der letzten 2500 Jahre? Was meine knapp 67? Warum wollte ich jemals als Literat bekannt werden und glaubte zuletzt, mein nötiger Brotberuf hätte vorhandenes Talent allmählich verkümmern, ersticken, versickern lassen?
Goethe, Schiller, Bernhard, Ransmayr, Die Schwäbische Nachtigall, Bachmann, Jelinek, Hadwiger, mein nichtssagender Name – was soll ’s!?
Keiner beneid’ mich
oder vergleich’ sich!

Zur Sicherheit ein Lungenröntgen. Nach Vorliegen der Laborwerte und nach Rücksprache mit dem Ober- und dem Stationsarzt: Verlegung in die Interne, Kardiologie, Herzüberwachungsstation.
Der anstaltseigene Krankentransportdienst schiebt mich kilometerweit durch alle Keller des Spitals. Der „Schieber“ ist Laufen gewohnt: Er war Kellner!
Ja, auch zur Prosektur fahre er, wenn alles zu spät sei. Am Rückweg sei er dann immer frei!
Ich danke ihm, dass er sich mit mir nicht verfahren hat. Nichts scheint mehr so „verfahren“.
Im Überwachungszimmer liegt schon ein 70-jähriger, der ständig hustet, der Arme! Die Erschöpfung treibt mich in Morpheus’ Arme, bis mich nachts der Oberarzt weckt, das EKG kontrolliert, nochmals Blut nehmen lässt. Mit der Ungewissheit, was weiter mit mir wird, liege ich fest.
Am Morgen weckt mich die Putzfrau vor 6 Uhr. Eine diplomierte Krankenschwester nimmt Blutdruck, Temperatur und abermals Blut. Ich erhalte einen Anmelde- und einen Erhebungsbogen zum Ausfüllen, unter anderem mit der Frage, ob ich vor oder nach 6 Uhr geweckt wurde. Vermerke: „Ist das durch die Putzfrau auf der Wachstation nötig? Noch dazu am Sonntag!“
Lobe aber das rührige, rührende Personal.
Untertags kommt der Operateur meines Zimmergenossen und eröffnet ihm – was er selbst nicht erwartet hätte –, er habe (wörtlich) „Krebs“. Es war eine Lungen-OP. Der Patient, der morgen entlassen wird, soll in zwei Wochen zur Besprechung der weiteren Behandlung wieder kommen.
Das Essen lässt er stehen. Der Appetit ist ihm vergangen, verständlicherweise. Er ruft seine Frau an und sagt ihr: „Krebs!“ Ich wahre weiter den Anschein, nichts mitbekommen zu haben.
Letztlich bleibt ’s sich
einerlei, doch leidlich
unvermeidlich!
Damit bescheid’ dich!

Zwei Stunden später weiß ich, dass ich den für die kommende Nacht im Voraus gebuchten Liegewagen nach Linz nehmen darf.
Da kommt des Mitpatienten Familie: Frau, über 60, Sohn 28, Tochter 19 – späte Kinder. Ratlose Gesichter, aber voller Liebe und Hilfsbereitschaft. „Weihnachten – eine schöne Bescherung! Aber wir schaffen das schon!“
Ich erkenne: Eingebunden sein ist wichtiger als berühmt.
Mein Freund bringt mir mein Gepäck aus dem Hotel und mich zur Bahn.
Dem Mitpatienten wünsche ich baldige Besserung und Vertrauen. In unserem Alter schreite Krebs nur langsam voran!
Jetzt weiß er, dass ich es weiß.

Mein Freund lässt mich zum Abschied und Trost wissen: Auch ohne mich sei sie gelungen gewesen, die Geburtstagsfeier!
Ganz ehrlich! Jeder ist entbehrlich! Immer dieselbe Leier …

Ich lese am Samstag in Gmunden über Osteoporose, so locker und lose, als wär ich nicht fast schon vom Hocker in die Grube gepurzelt, was daraus wurzelt, dass mir ’s gelungen und ich noch einmal von der Schaufel gesprungen, vom Schauferl vor dem letzten Schnauferl…
Ich beginne den Text für die Bratwürstellesung in Pregarten:
Was immer die von mir erwarten,(die Gäste meine ich, nicht die Würstel, insoweit die Gäste keine solchen sind), ich will versuchen, ihre Vorweihnachts-Konsumzwang-Hektik wider Willen zu beruhigen, ich will ihr ihnen wichtig vorkommendes Hin- und Herschnellen ruhigstellen, sie zum Sich-Besinnen, zum Bescheidener-Werden, zum Einander Entgegen- und zum Zuvorkommen hinführen, ihnen bewusst machen, wie viel Grund zum Lachen und zum Frohsein sie hätten, welchen Vorteil sie – trotz mancher Unstimmigkeiten, die sie einander bereiten – vor vielen anderen genießen, weil sie gesund, nicht gänzlich verarmt oder vereinsamt, sondern eingebunden sind, damit sie mit sich und miteinander herzlicher, ehrlicher und geduldiger umgehen. Denn es ist nicht „wurscht“, wie wir Weihnachten erleben! Wie viele Bratwürstelsamstage sind uns wohl noch gegeben?
Drum vermeidet Streit, seid für einander bereit, keine noch so kleine Freundlichkeit ist zeitlebens vergebens. Dankt dafür! – Danke!
H. H. HADWIGER