Im Glücke nicht stolz sein und im Leid nicht klagen,

Das Unvermeidliche mit Würde tragen,

Das Rechte tun, am Schönen sich erfreuen,

Das Leben lieben und den Tod nicht scheuen,

Und fest an Gott und bess’re Zukunft glauben,

Heißt leben, heißt dem Tod sein Bittres rauben.

Karl Streckfuß, Gedichte: Denkspruch (im alten Dreifaltigkeitskirchhof in Berlin)

 

 

Er konnte niemandem das Wasser reichen

 

 

Reinhold war schon von Geburt an benachteiligt: Er war mit einem Wasserkopf zur Welt gekommen. Dieser Hydrozephalus, diese Erweiterung seiner Gehirnkammern infolge krankhafter Vermehrung der Gehirnflüssigkeit, hatte jedoch alsbald eine Ableitung erfahren, so dass letztlich nur mehr die Kopfform daran erinnerte.

Ein Gehirnschaden war ihm davon nicht geblieben. Aber er war zu einem bedächtigen, verschlossenen Menschen geworden. Manche meinten, er sei wie ein stilles Wasser tief, hinter seinem ruhigen Auftreten verberge sich mehr, als es den Anschein habe.

Schon in der Schule hatte er sich schwer getan. Abgesehen davon, dass sich schadenfrohe Kameraden über sein Äußeres lustig machten und ihn damit hänselten, dass er bei seiner Kopfgröße doch um einiges gescheiter sein müsse, schränkten sie im Unterricht seine Wirksamkeit durch unpassende Zwischenrufe ein und gruben ihm – wo auch immer – das Wasser ab. Oft musste er sich sehr zurückhalten, nicht zu weinen, auch wenn ihm die Augen schon voll Wasser standen.

In Wahrheit war Reinhold so harmlos, dass er kein Wässerchen hätte trüben können.

Seine Ausbildung zum Installateur war nicht gerade vom Glück begleitet und insofern ein nutzloses Unterfangen – ein Schlag ins Wasser, könnte man sagen –, als er seiner Ungeschicklichkeit wegen weder die Gesellenprüfung bestand noch gleich eine Anstellung in einem Installationsbetrieb fand. All seinen Bemühungen fehlte der Erfolg, und ihm schien es bald so, als schöpfe er mit einem Sieb Wasser, so vergeblich waren seine Anstrengungen.

Schließlich fand er doch eine Verwendung als Hilfsarbeiter und konnte sich mit dem kargen Lohn mehr oder weniger mühsam über Wasser halten.

Im letzten Jahr freilich hatte sich seine Situation so eklatant verschlechtert, dass ihm das Wasser schon mehr als bis zum Hals stand: Er hatte seine Arbeit verloren, die Freundin war ihm davongelaufen, die Mietwohnung war ihm aufgekündigt worden, er wusste nicht, wovon er seine Schulden begleichen könnte. Nahe Angehörige besaß er keine mehr, ein Freund hatte ihn im Stich gelassen. Aber er verfügte noch über etwas Bargeld. Das wollte er aufbrauchen, indem er es sich noch einmal so richtig gut gehen ließe. Danach würde er den Freitod suchen.

Er buchte eine Reise nach Kroatien, wo er nahe Labins im zweiten Stock eines Privathauses mit der Aufschrift: „Apartmani“ ein Zimmer mit Kochnische, Bad und Terrasse bezog und einen fantastischen Meeresblick genoss, der ihn für all die graue Zeit entschädigte, die er im Hinterhof einer österreichischen Großstadt gefristet hatte.

Nun war Reinhold zufrieden, wenn nicht gar glücklich.

Eingedenk seines Vorhabens tröstete er sich mit dem Sprichwort: „Wenn es am schönsten ist, …“

Noch war er sich allerdings nicht über die Todesart klar, die er wählen wollte.

Sich zu erschießen, schien ihm am sichersten, dazu fehlte ihm aber eine Waffe wie auch die Möglichkeit, sie hier im Urlaubsort zu erstehen.

Gift würde er in Istrien in einer Drogerie oder Apotheke sicher nicht bekommen.

Für einen Verkehrsunfall, der am unverfänglichsten wäre, herrschte zu wenig Verkehr, und die Autofahrer fuhren zu beherrscht und zurückhaltend.

Ein Badeunfall im Meer wäre gleichfalls spektakulär. Da fiel ihm das Sprichwort: „Das Wasser hat keine Balken“ ein, was so viel heißt wie, im Wasser müsse man schwimmen können.

Um ins Wasser zu gehen und sich zu ertränken, konnte Reinhold einerseits nur zu gut schwimmen, so dass er sich vermutlich bis zuletzt selbst durch Wassertreten noch über Wasser gehalten hätte, andererseits war ihm das Wasser anfangs Mai zu frisch.

Eisenbahnlinie gab es keine in der Nähe, so dass er sich auf die Schienen hätte werfen können.

So blieb ihm nur noch der Sprung von der Terrasse, von wo aus er – wie er wusste – auf Marmorboden aufschlagen würde und zertrümmert sein. Nicht gerade ein erhebender Anblick, aber er sähe es ja selbst nicht mehr.

Zudem könne er den Sprung zur Nachtzeit ansetzen, da sähe er nicht, wohin er springe, und die ihn fänden, sähen ihn auch nicht in seinem ganzen Elend, sondern nur seine kläglichen Reste. Überdies ließe sich der „Freisprung“ als unglücklicher, nächtlicher Sturz von der Terrasse tarnen, insbesondere, wenn Reinhold „genügend alkoholisiert“ wäre.

Mithilfe seiner letzten Barschaft, seinem damit endenden materiellen Besitz, hatte sich Reinhold in einen solchen Zustand fortgeschrittener, die Zurechnungsfähigkeit noch nicht ausschließender Alkoholisierung versetzt, ehe er – im ansonsten ungetrübten Besitz seiner geistigen Kräfte – im Dunkeln auf die Terrasse trat, auf die Brüstung des Geländers stieg und sprang …

Freilich nicht in den Freitod, denn der Hausherr hatten – in Erwartung eines neuen Gastes am nächsten Morgen – alle Matratzen und die Oberbetten der Wohnung im Parterre zum Auslüften auf die Terrasse gebracht.

Darin landete Reinhold unversehrt.

Sein Selbstmord war ins Wasser gefallen, hatte nicht stattgefunden.

Wie ein geschlagener Hund verkroch er sich unbemerkt wieder in sein Zimmer.

Ehe er betrunken einschlief, versucht er noch vergeblich die Frage zu lösen:

Habe er nun Glück gehabt, dass er so glimpflich – also mit dem Leben – davongekommen sei, oder sei gerade darin sein tragisches Unglück gelegen, dass es ihm nicht vergönnt war, sich umzubringen, worin er für sich das letztmögliche Glück seines Lebens wahrzumachen gehofft hatte?

So nah liegen Glück und Unglück manchmal beieinander, dass Reinhold jetzt mit ihnen im selben Bett schlief.

Gegen Morgen wurde Reinhold von unbändigem Rauschen geweckt. Anfangs vermeinte er, nach seinem gelungenen Freitod auf einer Wasserrutsche hinunter in die Hölle zu rasen, bis er den wahren Grund dieses Rieselns und Plätschern, dieses Strömens und Sprudelns erkannte:

In seinem Schwül oder Rausch hatte Reinhold am Vorabend das Wasser im Badezimmer so aufgedreht gelassen, dass es ungehindert in und über die Badewanne hinaus floss und schon die ganze Wohnung überflutet hatte.

Nun stand Reinhold, dem verhinderten Installateur, das Wasser wahrlich bis zum Hals.

H. H. Hadwiger